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Übernatürliche Erhebung des Geistes. Glaube und Glaubensleben

eigentlichen Erkenntnisleistungen, sondern nur Hilfsmittel dafür. (Entsprechendes läßt sich für das Verhältnis von Gedächtnis und Willen nachweisen.) Daraus ergibt sich die Berechtigung, das Gedächtnis als ein besonderes Vermögen anzusehen. Bei Augustinus war jedenfalls entscheidend für die Dreiteilung außerdem die Rücksicht auf die trinitarische Gestaltung des Geistes, bei Johannes das Wechselverhältnis der drei geistigen Kräfte und der drei theologischen Tugenden. Damit rühren wir an den entscheidenden Punkt in seiner Geisteslehre.


c) Übernatürliche Erhebung des Geistes. Glaube und Glaubensleben

In seiner natürlichen Tätigkeit ist der Geist an die Sinne gebunden. Er nimmt das auf, was sie ihm darbieten, bewahrt das Wahrgenommene, ruft es bei Gelegenheit wieder vor seinen Blick, faßt es mit anderm zusammen, wandelt es ab und gelangt durch Vergleichen, Verallgemeinern, Folgern usw. zu seinen begrifflichen Erkenntnissen, zu Urteilen und Schlußfolgerungen, den eigentlichen Verstandesleistungen. Ebenso betätigt sich der Wille natürlicherweise an dem, was durch die Sinne dargeboten wird, findet darin seine Freude, sucht es in seinen Besitz zu bringen, empfindet Schmerz über den Verlust, erhofft den Besitz und fürchtet den Verlust. Aber der Geist hat nicht darin seine Bestimmung, die geschaffenen Dinge zu erkennen, und sich an ihnen zu freuen. Es ist eine Verkehrung seines ursprünglichen und eigentlichen Seins, daß er darin befangen ist. Er muß aus diesem Befangensein gelöst und erhoben werden zu dem wahren Sein, zu dem er geschaffen ist. Sein Blick muß auf den Schöpfer hingelenkt werden. Ihm soll er sich mit allen seinen Kräften hingeben. Das wird erreicht durch eine stufenweise fortschreitende Erziehungsarbeit und Entziehungsarbeit. Gott gibt die Anregung dazu und vollendet sie, aber sie erfordert die Mitwirkung des Menschen durch eigenes geistiges Tun. Entzogen werden muß dem Geist alles, womit er sich natürlicherweise beschäftigt. Erzogen werden muß er dazu, Gott zu erkennen und sich an Ihm allein zu freuen. Das geschieht zunächst dadurch, daß den natürlichen Kräften etwas dargeboten wird, was sie stärker anzieht und mehr befriedigt als das, was sie natürlicherweise erkennen und genießen. Der Glaube

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/101&oldid=- (Version vom 3.8.2020)