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Übernatürliche Erhebung des Geistes. Glaube und Glaubensleben

das wird sein dauernder Besitz. Und das ist mehr als ein Schatz von aufgespeicherten Wahrheiten, die bei Bedarf wieder aus dem Gedächtnis hervorgeholt werden können. Der Geist – und das besagt, sachgemäß weit gefaßt, nicht nur Verstand, sondern auch Herz – ist durch die dauernde Beschäftigung mit Gott vertraut geworden, er kennt Ihn und liebt Ihn. Diese Kenntnis und Liebe sind ein Bestandteil seines Seins geworden, etwa wie das Verhältnis zu einem Menschen, mit dem man seit langer Zeit zusammenlebt und innig vertraut ist. Solche Menschen brauchen nicht mehr Auskunft übereinander einzuholen und übereinander nachzudenken, um sich wechselseitig zu ergründen und von ihrer Liebenswürdigkeit zu überzeugen. Es bedarf zwischen ihnen auch kaum noch der Worte. Wohl bringt jedes neue Zusammensein ein neues Wachwerden und eine Steigerung der Liebe, vielleicht auch noch ein Kennenlernen von neuen Einzelzügen, aber das geschieht wie von selbst, man braucht sich nicht darum zu bemühen. So etwa ist auch der Verkehr einer Seele mit Gott nach langer Übung im geistlichen Leben. Sie braucht nicht mehr zu betrachten, um Gott kennen und lieben zu lernen. Der Weg liegt weit hinter ihr, sie ruht am Ziel. Sobald sie sich ins Gebet begibt, ist sie bei Gott und verweilt in liebender Hingabe in Seiner Gegenwart. Ihr Schweigen ist Ihm lieber als viele Worte. Das ist es, was man heute erworbene Beschauung nennt. (Johannes vom Kreuz gebraucht den Namen nicht, kennt aber die Sache wohl[1].) Es ist die Frucht eigener Tätigkeit, die freilich angeregt und getragen ist von vielfacher Gnadenhilfe. Gnade ist es, wenn uns die Glaubensbotschaft, Gottes offenbarte Wahrheit, erreicht. Gnade ist es, die uns die Kraft schenkt, die Glaubensbotschaft anzunehmen – wenn wir dies auch dann in freier Entscheidung vollziehen müssen – und damit gläubig zu werden. Ohne Gnadenbeistand ist kein Gebet und keine Betrachtung möglich. Und doch ist das alles Sache unserer Freiheit und vollzieht sich mit Hilfe unserer eigenen Kräfte. Es hängt auch von uns ab, ob wir uns ins Gebet begeben, ob und wie lange wir in der erworbenen Beschauung verweilen. Betrachten wir nun diese Beschauung in sich selbst, die ruhige, liebende Hingabe an Gott, so können wir auch sie als eine Form des Glaubens, der fides qua creditur, in Anspruch nehmen: nicht als das credere Deum (obwohl der Glaube an Gottes Dasein dafür vorausgesetzt und darin eingeschlossen ist), auch nicht als das credere Deo (obwohl es der Niederschlag alles


  1. Vgl. Aufstieg, B. II Kap. 12, E. Cr. I 154 ff. Die kurze Abhandlung über die dunkle bejahende und verneinende Gotteserkenntnis...., E. Cr. III 287 ff., spricht von natürlicher Beschauung. (NB. Diese kleine Schrift wird nicht allgemein als echt anerkannt, wie früher erwähnt wurde.)
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/103&oldid=- (Version vom 3.8.2020)