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Außerordentliche Gnadenmittelungen und Loslösung davon

muß erst aus ihrer Umklammerung befreit werden, um die Kraft zu rein geistigem Leben und Tun und zur Herrschaft über die Sinne zurückzuerlangen. Wir haben das Wirken des Glaubens in diesem Befreiungsprozeß bis zu einem gewissen Punkt verfolgt: wie er den Geist auf Gott hinlenkt und schließlich zu einem rein geistigen Verkehr mit Gott emporführt. Es muß aber zu dieser Beschäftigung mit Gott noch etwas anderes hinzukommen: die Abwendung von allem, was nicht Gott ist. Das ist die Hauptarbeit, die in der aktiven Nacht des Geistes geleistet wird.


d) Außerordentliche Gnadenmitteilungen und Loslösung davon

Es war davon die Rede, daß der Glaube die seelischen Kräfte anzieht und zur Beschäftigung mit Gott und göttlichen Dingen anregt. Aber damit ist noch lange keine Loslösung von der geschaffenen Welt erreicht. Auch Menschen, die sich ernstlich zu einem geistlichen Leben entschließen und beharrlich dabei bleiben, widmen doch nur einen kleineren oder größeren Teil des Tages dem Gebet und der Betrachtung. Im übrig stehen sie mit beiden Füßen auf dem Boden der geschaffenen Welt. Sie bemühen sich, diese Welt erkenntnismäßig zu durchdringen und ihrer Herrschaft zu unterwerfen, zeitliche Güter zu erwerben und sich an ihnen zu freuen. Sie erliegen noch dem bestrickenden Zauber der natürlichen Güter und sind noch nicht unzugänglich für das, was die Sinne befriedigt, wenn sie sich auch vielleicht unter dem Einfluß ihres Gebetslebens in dieser Richtung schon weitgehend Schranken auferlegen. So ist ihr Verstand mit den Dingen dieser Welt beschäftigt und verbraucht darin seine Kraft, die Einbildungskraft ist davon erfüllt, der Wille dadurch bestimmt in seinen Bestrebungen, daran gebunden mit seinen Leidenschaften. All das wirkt hemmend auch in sein Gebetsleben hinein und würde es schließlich ganz zunichts machen, wenn Gott der Seele nicht mit besonderem Gnadenbeistand zu Hilfe käme. Das geschieht aber, und zwar nicht nur durch die Glaubensbotschaft, sondern durch außerordentliche Mitteilungen, die geeignet sind, die Reize der natürlichen Welt zu überbieten und unwirksam zu machen. Es werden den Sinnen und der Einbildungskraft Bilder dargeboten, die alles Irdische übertreffen. Der Verstand wird durch übernatürliche Erleuchtung zu Einsichten erhoben, die er sich mit seiner eigenen Erkenntnisarbeit niemals verschaffen könnte. Das Herz wird erfüllt mit himmlischem Trost, neben dem alle Freuden und Genüsse der Welt verblassen. Auf diese Weise wird die Seele

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/105&oldid=- (Version vom 3.8.2020)