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Passive Nacht des Geistes

natürlichen und geistigen Gütern und sieht sich hineinversetzt in die entgegengesetzten Übel, „ins Elend ihrer Unvollkommenheiten, in Trockenheit, in völlige Ohnmacht, sich mit ihren Seelenkräften etwas vorzustellen, und in finstere Verlassenheit des Geistes.... Es ist ihr zumute, wie wenn man sie aufhängen und in der Luft halten würde, ohne daß sie zu atmen vermag. Aber Gott reinigt die Seele auch noch dadurch, daß Er in ihr alle Neigungen und gewohnheitsmäßigen Unvollkommenheiten .... zunichtemacht, aufhebt und zerstört, wie das Feuer Rost und Schimmel am Metall verzehrt. Da sich diese tief im Wesen der Seele eingewurzelt haben, so hat sie gewöhnlich außer der natürlichen und geistigen Armut und Entblößung auch noch große Beschwerden zu leiden, Vernichtung und innere Qualen....“ Um den Rost ihrer Neigungen zu entfernen und auszutilgen, muß sich die Seele in gewissem Sinne „erst vernichten und verzehren, da ihr diese Leidenschaften und Unvollkommenheiten gleichsam zur zweiten Natur geworden sind“. Und sie „fühlt dieses gewaltsame Verzehrtwerden in ihrem eigenen Wesen, .... so daß sie vor Armseligkeit gleichsam vergeht“. „Hier demütigt Gott die Seele in hohem Grade, um sie dann noch höher zu erheben“. Wäre dieser Zustand dauernd, „so müßte sie in kürzester Zeit den Leib verlassen. Glücklicherweise drängen sich ihr diese Gefühle nur in kurzen Zwischenräumen mit äußerster Lebhaftigkeit auf. Aber manchmal nimmt sie ihre verwerfliche Unwürdigkeit so lebendig wahr, daß es ihr scheint, als sähe sie die Hölle .... offen vor sich. Solche Seelen gehören zu jenen, die in der Tat lebendig in die Unterwelt hinabsteigen, weil sie hier ebenso gereinigt werden wie dort.... Und so betritt die Seele, die auf diese Weise hier leidet, überhaupt nicht jenen Ort oder wird nur sehr kurze Zeit zurückbehalten, da sie sich hier in einer Stunde mehr vervollkommnet als dort in vielen“[1].

Die Leiden werden noch verschärft durch den früheren glücklichen Zustand, denn gewöhnlich haben solche Seelen „vor ihrem Eintritt in diese Nacht große Süßigkeiten in Gott gefunden und vieles in Seinem Dienst getan“, nun aber sind sie diesem Gut fern und können nicht mehr dazu gelangen. Die Beschauung versetzt die Seele überdies in so große Einsamkeit und Verlassenheit, „daß sie weder an einer Belehrung noch an einem geistlichen Führer Trost und Stütze finden kann. Wenn man ihr auch die manigfachsten Trostgründe vor Augen führt...., so meint sie, andere sähen nicht, was sie sehe und fühle, oder redeten nur so, ohne Kenntnis zu haben.


  1. a. a. O. § 2 Kap. 6, E. Cr. II 61 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/111&oldid=- (Version vom 3.8.2020)