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Passive Nacht des Geistes

er schließt sie in die Adern der Wissenschaft der Liebe ein und läßt sie so erkennen, wie tief die Geschöpfe stehen im Vergleich zu dem erhabenen göttlichen Erkennen und Empfinden, und bringt sie auch zur Einsicht, wie niedrig, „unzulänglich und durchaus ungeeignet alle Bezeichnungen und Worte sind, mit denen man in diesem Leben von göttlichen Dingen redet, und wie unmöglich auf natürlichem Wege .... ist, sie so zu erkennen, wie sie sind“; man kann nur durch die mystische Gottesweisheit darüber erleuchtet werden. Weil „diese Dinge menschlicherweise nicht erkannt werden, so muß man zu ihnen durch menschliches Nichterkennen und göttliches Nichtwissen gelangen; denn, mystisch gesprochen, .... es werden diese göttlichen Dinge und Vollkommenheiten nicht erkannt und verstanden, wie sie sind, wenn man sie erforschen und üben will, sondern erst, wenn man sie gefunden und geübt hat“. „.... Die Pfade und Fußstapfen, auf denen Gott in den Seelen wandelt, die Er zu sich führen und in der Vereinigung mit Seiner Weisheit auszeichnen will, .... sollen nicht erkannt werden“[1].

Der Nacht-Gesang nennt die dunkle Beschauung eine Leiter; denn „wie man auf einer Leiter emporsteigt, um die Vorräte, Schätze und andere Dinge in einer Festung im Sturm zu nehmen, so steigt die Seele mittels dieser verborgenen Beschauung, ohne zu wissen wie, empor, um die himmlischen Schätze und Güter zu erstürmen, zu erkennen und zu besitzen“. Ferner: „Wie dieselben Sprossen einer Leiter zum Hinauf- und Herabsteigen dienen, ebenso erniedrigt diese verborgene Beschauung die Seele durch dieselben Gunstbezeugungen, die .... sie zu Gott emporhoben. Denn alle Gunstbezeugungen, die wirklich von Gott kommen, haben das Eigentümliche, daß sie die Seele sowohl erniedrigen als auch erhöhen“. Sie ist auf diesem Wege ständigen Wechselfällen unterworfen. Auf das Wohlergehen folgen stets „sogleich wieder Stürme und Bedrängnisse, sodaß jenes Wohlergehen gleichsam nur als Vorbereitung und Stärkung für das kommende Elend gegeben zu sein scheint; so folgt auch das Elend und die Widerwärtigkeiten reichlicher Genuß und Wohlergehen. So kommt es der Seele vor, man habe ihr für jede Festfeier eine Vigil verordnet. Und das ist die gewöhnliche Ordnung .... im Stande der Beschauung. Man bleibt nie auf einem Standpunkt, bis man zum Stande der Ruhe gelangt, sondern steigt immer aufwärts und abwärts. Der Grund ist der: da der Stand der Vollkommenheit in vollkommener Liebe Gottes und Verachtung seiner selbst besteht, so kann er nicht ohne diese zwei Teile sein, ohne


  1. a. a. O. Str. 2 V. 2, § 1 Kap. 17, E. Cr. II 105 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/125&oldid=- (Version vom 7.1.2019)