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Tod und Auferstehung

frei von aller Sinnlichkeit überhaupt und darum nicht rein geistig in dem Sinn, in dem Johannes vom Kreuz von reiner Geistigkeit spricht. Er nennt wohl Gedächtnis, Verstand und Willen geistige Kräfte aber ihre natürliche Tätigkeit ist noch sinnenbedingt und darum sinnliches Leben, rein geistig ist allein das, was im innersten Herzen stattfindet, das Leben der Seele aus und in Gott[1]. Hier haben die geschaffenen Geister keinen Zutritt. Die Gedanken des Herzens sind ihnen natürlicherweise verborgen – natürlicherweise, denn Gott kann sie ihnen offenbaren.


Das Innerste der Seele und die Gedanken des Herzens

Die Gedanken des Herzens, das ist das ursprüngliche Leben der Seele in ihrem Wesensgrunde, in einer Tiefe, die vor aller Spaltung in verschiedene Kräfte und ihre Betätigung liegt. Die Seele lebt sich darin aus, so wie sie in sich selbst ist, jenseits von allem, was durch die Geschöpfe in ihr hervorgerufen wird. Wenn dieses Innerste die Wohnstätte Gottes und der Ort der Vereinigung der Seele mit Gott ist, so flutet doch das Eigenleben hier, ehe das Leben der Vereinigung beginnt: auch dort, wo es nie zu einer Vereinigung kommt. Jede Seele hat ja ein Innerstes, und dessen Sein ist Leben. Aber dieses Ur-Leben ist nicht nur vor anderen Geistern, sondern auch vor ihr selbst verborgen. Das hat verschiedene Gründe. Das Ur-Leben ist formlos. Die Gedanken des Herzens sind durchaus noch keine Gedanken im üblichen Sinn, keine fest umrissenen, gegliederten und faßbaren Gebilde des denkenden Verstandes. Sie müssen durch mancherlei Formungen hindurchgehen, ehe sie zu solchen Gebilden werden. Sie müssen erst aufsteigen aus dem Grunde des Herzens. Dann kommen sie an eine erste Schwelle, wo sie spürbar werden. Dies Spüren ist eine viel ursprünglichere Weise des Bewußtseins als das verstandesmäßige Erkennen. Es liegt auch noch vor der Spaltung der Kräfte und Tätigkeiten. Es fehlt ihm die Klarheit des rein verstandesmäßigen Erkennens; andererseits ist es reicher als eine bloße Verstandeserkenntnis. Was aufsteigt, wird gespürt als mit einem Wertcharakter behaftet, der die Entscheidung an die Hand gibt, ob man das, was aufsteigt, aufkommen lassen soll und will oder nicht. Es ist hier noch anzumerken, daß das, was rein natürlicherweise aufsteigt und spürbar wird, schon nicht mehr das rein innere Leben der


  1. Vgl. Lebendige Liebesflamme, Erklärung zu Str. 2 V. 6, Obras IV 43 ff u. 150 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/140&oldid=- (Version vom 7.1.2019)