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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

entscheiden? Dabei ist zu bedenken, daß die Eigentätigkeit der Seele augenscheinlich immer mehr abnimmt, je mehr sie sich dem Innersten nähert. Und wenn sie hier angelangt ist, wirkt Gott alles in ihr, sie hat nichts mehr zu tun, sondern nur noch in Empfang zu nehmen[1]. Doch gerade in diesem In-Empfang-Nehmen kommt der Anteil ihrer Freiheit zum Ausdruck. Darüber hinaus greift aber die Freiheit an noch viel entscheidenderer Stelle ein: Gott wirkt nur darum hier alles, weil sich die Seele Ihm völlig übergibt. Und diese Übergabe ist die höchste Tat ihrer Freiheit. Johannes selbst schildert die mystische Vermählung als freiwillige Hingabe Gottes und der Seele aneinander und schreibt der Seele auf dieser Stufe der Vollkommenheit eine so große Macht zu, daß sie nicht nur über sich selbst, sondern sogar über Gott verfügen kann[2]. Für diese höchste Stufe persönlichen Lebens besteht also völlige Übereinstimmung zwischen der mystischen Lehre unserer Ordenseltern und der Auffassung, daß das Innerste der Ort der vollkommensten Freiheit ist.

Wie verhält es sich aber bei der großen Masse der Menschen, die nicht zur mystischen Vermählung gelangen? Können sie ins Innerste eingehen und von hier aus eine Entscheidung fällen oder sind sie nur zu mehr oder minder oberflächlichen Entscheidungen fähig? Die Antwort läßt sich nicht in einem einfachen Ja oder Nein geben.

Der Wesensbau der Seele – ihre größere und geringere Tiefe, auch das Innerste – besteht von Natur aus, und in ihm ist, gleichfalls natürlicherweise, die Bewegung des Ich in diesem Raum als Wesensmöglichkeit begründet. Es nimmt bald da, bald dort Aufstellung, je nach den Beweggründen, die an es herantreten. Aber es unternimmt seine Bewegungen von einem Standort aus, wo es sich vorzugsweise aufhält. Dieser Standort nun ist nicht überall der gleiche, sondern bei verschiedenen Menschentypen typisch verschieden. Der sinnliche Genußmensch ist zumeist in einen Sinnengenuß versenkt oder damit beschäftigt, sich einen Genuß zu verschaffen; sein Standort ist sehr weit von seinem Innersten entfernt. Der Wahrheitsucher lebt vorwiegend im Herzpunkt der forschenden Verstandestätigkeit; wenn es ihm wirklich um die Wahrheit zu tun ist (nicht um ein bloßes Sammeln von Einzelerkenntnissen), dann ist er vielleicht dem Gott, der die Wahrheit ist, und damit seinem eigenen Innersten, näher als er selbst weiß. Wir wollen diesen zwei Beispielen nur noch ein drittes beifügen, das von besonderer Bedeutung zu sein scheint: den „Ichmenschen“, d.h. den, für den das eigene Ich im Mittelpunkt steht; es


  1. Lebendige Liebesflamme, Erklärung zu Str. 1 V. 3, Obras IV 12 ff. u.113 ff.
  2. a. a. O. Str. 3 V. 4, Obras V 84 ff. u. 195 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/145&oldid=- (Version vom 7.1.2019)