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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

d.h. wahrhaft vernunftsgemäß und wahrhaft frei, Stellung zu nehmen. Neben diesem oberflächlichen Ablehnen ist freilich auch ein sachgemäßeres denkbar: ein Ablehnen, das die Forderung, Hilfe zu leisten, mit ihrem vollen Gewicht auf die Seele wirken läßt und ins Auge faßt, doch sich genötigt sieht, sie nach Erwägung aller Gründe und Gegengründe als unberechtigt abzuweisen. Eine solche Ablehnung steht auf gleicher Stufe mit einem Willfahren nach sachlicher Abwägung der Gründe und Gegengründe. Beides ist nur möglich, wenn der Sinnenmensch seine Haltung als Sinnenmensch aufgibt und in die ethische Haltung übergeht, d.h. in die Einstellung, die das erkennen und tun will, was sittlich recht ist. Dazu muß er aber sehr tief in sich selbst Stellung nehmen: so tief, daß der Übergang einer förmlichen Umwandlung des Menschen gleichkommt und vielleicht natürlicherweise gar nicht möglich ist, sondern nur auf Grund einer außerordentlichen Erweckung. Ja, wir dürfen wohl sagen: eine letztlich sachgemäße Entscheidung ist nur aus der letzten Tiefe möglich. Denn kein Mensch ist natürlicherweise in der Lage, alle Gründe und Gegengründe zu übersehen, die bei einer Entscheidung mitsprechen. Man kann nur nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, soweit der eigene Gesichtskreis reicht. Der gläubige Mensch aber weiß, daß es Einen gibt, dessen Blick durch keinen Gesichtskreis eingeengt ist, sondern wahrhaft alles umfaßt und durchschaut. Wer in dieser Glaubensgewißheit lebt, dessen Gewissen kann sich darum nicht mehr bei dem eigenen besten Wissen beruhigen. Er muß danach trachten zu erkennen, was in Gottes Augen das Rechte ist. (Darin liegt, daß erst die religiöse Haltung die wahrhaft ethische ist. Es gibt wohl ein natürliches Suchen und Sehnen nach dem Rechten und Guten, auch ein Finden im einzelnen Fall, aber es wird erst im Suchen nach dem göttlichen Willen wahrhaft zu sich selbst kommen.) Wer von Gott selbst hineingezogen worden ist in das eigene Innerste und sich Ihm hingegeben hat in der Liebesvereinigung, für den ist die Frage ein für allemal gelöst; er braucht sich nur noch lenken und leiten zu lassen von Gottes Geist, der ihn spürbar antreibt, und hat dann immer und überall die Gewißheit, das Rechte zu tun. In der großen Entscheidung, die er in höchster Freiheit getroffen hat, sind alle künftigen eingeschlossen und können dann im gegebenen Fall wie selbstverständlich erfolgen. Aber von dem einfachen Suchen nach der rechten Entscheidung im einzelnen Fall bis zu dieser Höhe ist ein weiter Weg – wenn überhaupt ein Weg dahin führt. Wer nur hier und jetzt das Rechte sucht und so entscheidet, wie er es zu erkennen glaubt, der ist eben damit auf dem Wege zu Gott und auf

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/147&oldid=- (Version vom 7.1.2019)