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Tod und Auferstehung

Darlegungen so, als sei überhaupt keine scharfe Grenzlinie zu ziehen: beide werden als Weg zur Vereinigung, beide als dunkle und liebende Erkenntnis bezeichnet. Von der Dunkelheit des Glaubens handelt vor allem der Aufstieg zum Berge Karmel[1]: hier wird ja der Glaube als mitternächtliches Dunkel bezeichnet, weil wir das Licht der natürlichen Erkenntnis völlig preisgeben müssen, um sein Licht zu gewinnen. Die Beschauung bezeichnet Johannes öfters mit den areopagitischen Ausdrücken mystische Theologie (verborgene Gottesweisheit) und Strahl der Finsternis[2]. Beide rücken sehr nahe aneinander, wenn gesagt wird, Gott hülle sich in die Dunkelheit des Glaubens; wenn Er sich der Seele mitteile[3]. Andererseits wird gerade in diesen Ausführungen des Aufstiegs klar, daß Glaube und Beschauung nicht einfach gleichbedeutend sein können, weil gesagt wird, daß die Nacht des Glaubens Führerin sei in den Wonnen der reinen Beschauung und Vereinigung. Eine Unterschiedenheit ist auch vorausgesetzt, wenn es im Vorwort zum Geistlichen Gesang heißt, die mystische Weisheit fordere kein bestimmtes Verständnis und sei darin dem Glauben ähnlich, durch den wir auch Gott lieben, ohne Ihn genau zu erfassen[4]. Würden beide zusammenfallen, so könnte ja von Ähnlichkeit nicht gesprochen werden. Unterschiedenheit und nahe Zusammengehörigkeit sind vielleicht am schärfsten ausgedrückt an einer Stelle, wo die Beschauung als unklare, dunkle und allgemeine Erkenntnis den deutlich erkennbaren und gesonderten übernatürlichen Verstandeserkenntnissen gegenübergestellt wird: „Die dunkle und allgemeine Verstandeserkenntnis ist nur eine: das ist die Beschauung, die sich uns im Glauben gibt“[5].

Zum Verständnis dieses Satzes und des Verhältnisses von Glauben und Beschauung muß an das erinnert werden, was an früheren Stellen über die Bedeutungsmannigfaltigkeit gesagt ist, die das Wort Glauben notwendig in sich befaßt; auch an die Mehrdeutigkeit der Beschauung. Glauben wird der Inhalt der göttlichen Offenbarung und das Annehmen dieses Offenbarungsinhalts genannt, schließlich die liebende Hingabe an Gott, von dem die Offenbarung spricht und dem wir sie verdanken. Der Glaubensinhalt liefert den Stoff für die


  1. B. II Kap. 1 ff., E. Cr. I 100 ff.
  2. U.a. Aufstieg, a. a. O. Kap. 7 gegen Ende, E. Cr. I 130. Dionysius gebraucht den Ausdruck Strahl der Finsternis im 1. Kap. der Mystischen Theologie (Migne, P. Gr. III 999 f.).
  3. Aufstieg, B. II Kap. 8, E. Cr. I 132.
  4. Hierin haben wir zugleich einen Beleg für die Darstellung des Glaubens als liebende Erkenntnis; für die Beschauung vgl. besonders Aufstieg, a. a. O. Kap. 12 u. 13, E. Cr. I 153 u. 163.
  5. Aufstieg, a. a. O. Kap. 9 (Ende), E. Cr. I 136.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/162&oldid=- (Version vom 7.1.2019)