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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

Betrachtung: die Betätigung der seelischen Kräfte an dem, was wir gläubig angenommen haben, in bildhafter Vergegenwärtigung, verstandesmäßigem Nachsinnen und Willensstellungnahme. Als Frucht der Betrachtung wird ein bleibender Zustand liebender Erkenntnis gewonnen[1]. Die Seele verweilt nun in ruhiger, friedlicher, liebender Hingabe in der Gegenwart Gottes, den sie durch den Glauben kennen gelernt hat, ohne irgend eine einzelne Glaubenswahrheit zu betrachten. Als Frucht der Betrachtung ist dies erworbene Beschauung. Ihrem Erlebnisgehalt nach ist sie nicht unterschieden vom Glauben im dritten Sinn; dem credere in Deum, dem gläubigen und liebenden Hineingehen in Gott. Aber meistens hat Johannes vom Kreuz etwas anderes im Auge, wenn er von Beschauung spricht. Gott kann der Seele ein dunkles, liebendes Erkennen Seiner selbst auch ohne vorausgehende Übung der Betrachtung schenken. Er kann sie plötzlich in den Zustand der Beschauung und Liebe versetzen, ihr die Beschauung eingießen. Auch das wird nicht ohne Beziehung zum Glauben geschehen. In der Regel wird es Seelen zuteilwerden, die durch lebendigen Glauben und ein Leben aus dem Glauben dafür vorbereitet sind. Sollte aber einmal ein Ungläubiger davon ergriffen werden, so würde ihm doch die bisher nicht angenommene Glaubenslehre zu der Erkenntnis verhelfen, von wem er ergriffen wird. Und auch die treu liebende Seele wird aus dem Dunkel der Beschauung immer wieder zur sicheren Klarheit der Glaubenslehren ihre Zuflucht nehmen, um von daher zu verstehen, was ihr begegnet[2]. Was ihr aber begegnet, das ist trotz aller Übereinstimmung etwas grundsätzlich anderes als die erworbene Beschauung und die Hingabe an Gott im bloßen Glauben, deren Erlebnisgehalt sich mit dem der erworbenen Beschauung deckt. Das Neue ist das Ergriffenwerden von dem fühlbar gegenwärtigen Gott oder – in jenen Erlebnissen der Dunklen Nacht, in denen die Seele dieser fühlbaren Gegenwart beraubt ist – die schmerzliche Liebeswunde und das sehnliche Verlangen, die zurückbleiben, wenn Gott sich der Seele entzieht. Beides sind mystische Erfahrungen, begründet in jener Art des Innewohnens, die eine Berührung von Person zu Person im Innersten der Seele ist. Der Glaube dagegen und alles, was zum Glaubensleben gehört, beruhen auf dem gnadenhaften Innewohnen.

Der Gegensatz von fühlbarer Gegenwart und fühlbarem Entzogensein Gottes in der mystischen Beschauung weist noch auf etwas anderes hin, was zur Abgrenzung gegenüber dem Glauben dienen


  1. Vgl. dazu Aufstieg, B. II Kap. 12, E. Cr. II 154 ff.
  2. Vgl. Geistlicher Gesang, Erklärung zu Str. II (12), E. Cr. II 221.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/163&oldid=- (Version vom 7.1.2019)