Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/171

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

göttliches Licht, womit ich Dich schauen kann; Du läßt meine Schwäche nicht mehr in Ohnmacht geraten, sondern wirst vielmehr die Stärke meines Willens sein, unter deren Einfluß ich, ganz in die göttliche Liebe umgewandelt, Dich lieben und genießen kann. Du bist nun für das Wesen meiner Seele keine Last und keine Bedrängnis mehr, vielmehr Beseligung, Wonne und Erweiterung....“[1] Und weil sie sich nun dem Ziele so nahe weiß, bittet sie um das Letzte: „Vollende, wenn Du willst!“

Es ist die Bitte um die vollkommene mystische Vermählung in der beseligenden Anschauung. Zwar ist die Seele auf dieser Stufe durchaus gelassen und fast wunschlos; sie möchte um sonst nichts mehr bitten. Da sie aber immer noch in der Hoffnung lebt und noch nicht im vollen Besitz der Gotteskindschaft, sehnt sie sich nach der Voll­endung, und das umso mehr, als sie den Vorgeschmack und Genuß davon schon hat, soweit das auf Erden möglich ist. So hoch ist dieser Grad, daß sie glaubt, ihre Natur müsse sich auflösen, da der niedere Teil nicht imstande ist, ein so mächtiges und erhabenes Feuer zu ertragen. Und sie würde auch wirklich vergehen, wenn Gott nicht der Schwäche ihrer Natur zu Hilfe kommen und sie mit Seiner Rechten stützen würde. Übrigens sind die kurzen Lichtblicke der Beschauung derart, „daß es ein Beweis schwacher Liebe wäre, die Bitte um den Eintritt in jene Vollkommenheit und Vollendung der Liebe zu unterlassen“. Sie nimmt auch wahr, daß der Heilige Geist selbst sie zur Beseligung einladet, ähnlich wie die Braut im Hohenlied gerufen wird: „Mach Dich auf und eile, meine Freundin, meine Taube, meine Schöne, und komm....“ (Cant. 2,10 ff.). „Vollen­de – wenn Du willst“, damit spricht die Seele „jene zwei Bitten aus, die uns der Bräutigam im Evangelium lehrt: ,Zukomme uns Dein Reich – Dein Wille geschehe’“[2].

Damit die vollkommene Vereinigung stattfinden könne, muß je­des trennende Gewebe zwischen Gott und der Seele beseitigt werden. Es kann ein dreifaches sein: „ein zeitliches, das alle Geschöpfe in sich begreift; ein natürliches, das alle rein natürlichen Tätigkeiten und Neigungen umfaßt; .... ein sinnliches, das die Vereinigung der Seele mit dem Leibe, das sinnliche und animalische Leben in sich schließt....“ Das erste und zweite mußte schon zerrissen werden, um zu der bereits erreichten Vereinigung zu gelangen. Das geschah „durch das schreckliche Zusammentreffen mit jener Flamme, als sie noch furchtbar war“. Jetzt ist nur noch das dritte Gewebe des


  1. a. a. O. Str. 1 V. 4, Obras IV 15 ff. u. 119 ff.
  2. a. a. O. Str. 1 V. 5, Obras IV 20 ff. u. 124 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/171&oldid=- (Version vom 6.1.2019)