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sinnlichen Lebens zu zerreißen, und das ist durch die Vereinigung mit Gott schon so dünn und zart wie ein Schleier. Und wenn es zerrissen wird, so kann die Seele von einem süßen Treffen sprechen. Denn das natürliche Streben solcher Seelen ist ganz anders als bei anderen, obwohl die natürlichen Bedingungen des Todes ähnlich sind. „Sterben sie an einer Krankheit oder an Altersschwäche, so löst sich doch bei ihnen die Seele mit heftiger Gewalt und in weit erhabe­nerer Liebesbewegung .... los....; diese Liebesbewegung hat .... die Kraft, das Gewebe zu zerreißen und den kostbaren Juwel der Seele mit sich zu nehmen. Darum ist das Sterben solcher Seelen um so lieblicher und süßer, als es das geistige Leben während der Dauer des ganzen Lebens war. Ihr Tod wird verursacht durch die erhabensten Antriebe und wonnevollsten Begegnungen der Liebe, gleichwie der Schwan am lieblichsten singt, wenn es mit ihm zum Sterben kommt. Darum sagt David: ,Kostbar ist in den Augen Gottes der Tod seiner Heiligen’ (Ps. 115,15). Denn hier vereinigen sich alle Reichtümer der Seele, und es ergießen sich ihre Liebesströme ins Meer der Liebe...., so reichhaltig und ruhig...., daß sie schon Meere zu sein scheinen“. Die Seele sieht sich „schon an der Schwelle des Eintritts in die Glückesfülle...., um ihr Reich voll und ganz zu besitzen.... Sie sieht sich rein und reich, voll Tugend und wohl zubereitet für die Besitznahme.... Denn in diesem Zustand läßt Gott die Seele ihre eigene Schönheit schauen.... Alles verwandelt sich jetzt in Liebe und Lobpreisung ohne eine Spur von Vermessen­heit und Eitelkeit, da aller Sauerteig der Unvollkommenheiten be­seitigt ist.... Nun sieht die Seele, daß ihr sonst nichts mehr fehlt, als daß das feine Gewebe des natürlichen Lebens zerreißt.... So verlangt sie aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein und emp­findet es als Qual, da ein so armseliges und schwaches Leben sie hindern kann an der Besitznahme des andern, so erhabenen und un­vergänglichen Lebens. Deshalb bittet sie....: „Zerreiß den Schleier dieses süßen Treffens“[1].

Da sie nun „die Kraft des anderen Lebens fühlt, .... nimmt sie auch .... die Schwäche dieses Lebens wahr. Es kommt ihr .... wie ein überaus dünnes Gewebe vor, ähnlich wie ein Spinnengewebe (Ps. 89, 9) ...., ja .... noch viel geringfügiger....“ Denn sie erkennt nun die Dinge wie Gott; „sie sind vor ihren Augen nichts, und auch sie selbst ist nichts, Gott allein ist ihr alles“.

Sie bittet um Zerreißen, nicht um Abschneiden: einmal, weil das besser zur Vorstellung einer Begegnung paßt; ferner, „weil die Liebe


  1. a. a. O. Str. 1 V. 6, Obras IV 22 ff. u. 126 ff. 172
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/172&oldid=- (Version vom 7.1.2019)