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voll Leben und Feuer, das in seinem Umkreis ein lebendi­ges und glühendes Feuer ausstrahlen läßt. Sie hat das Gefühl, als ob dieses Feuer, das aus dem Wesen und der Kraft jenes lebendigen Punktes entsteht, wo das Wesen und die Kraft des Krautes ist, in erhabener Weise sich in alle Geistes- und Wesensadern ergieße....; wobei sie die Liebesglut in hohem Grade zunehmen und wachsen sieht. In dieser Glut wird die Liebe so geläutert, daß es ihr vor­kommt, als wäre ein ganzes Meer von liebeentflammtem Feuer in ihr, das vor übergroßer Fülle auf- und niederwogt, alles mit Liebe erfüllend. In diesem Feuer erscheint das ganze Weltall als ein Meer der Liebe; sie sieht, darein getaucht, keine Grenzen und kein Ende dieser Liebe, während sie in sich .... den lebendigen Mittelpunkt der Liebe wahrnimmt. Von der Wonne, die hier die Seele genießt, kann man nur sagen, daß sie darin erfährt, wie gut im Evangelium das Himmelreich mit einem Senfkörnlein verglichen wird, das, obschon ganz klein, infolge seiner heftigen Triebkraft zu einem gro­ßen Baum heranwächst (Matth. 13,31). Denn die Seele gewahrt, wie sie selber zu einem unermeßlichen Feuer der Liebe geworden ist, das hervorbricht von jenem glühenden Punkt im Herzen des Geistes.

Wenige gelangen so weit, aber manche haben die Stufe erreicht, vor allem jene, deren Tugend und Geist sich auf ihre Nachkommen fortpflanzen mußte. Da erfüllte Gott die Familienhäupter...., die Erstlinge des Geistes mit Reichtum und Kraft, je nach der großen oder geringen Zahl jener, die ihre Lehre und ihren Geist sich aneignen sollen“. (Auch diese Bemerkung weist auf die heilige Mutter.)

In manchen Fällen wird die innere Verwundung auch nach au­ßen hin am Leibe sichtbar. Johannes beruft sich dafür auf die Wundmale des hl. Franziskus, die der Seraph „auch dem Leibe ein­drückte...., wie er sie seiner Seele durch die Liebesverwundung bei­gebracht hatte[1]. Denn Gott gewährt gewöhnlich dem Leib keine Gnade, die er nicht zuvor und in erster Linie der Seele erwiesen hätte“. Je größer dabei die Wonne und Kraft der Liebe infolge der inneren Verwundung ist, „desto empfindlicher ist auch der Schmerz äußerlich an der Wunde des Leibes. Und mit dem Wachstum des einen nimmt auch das andere zu“. Denn „den gereinigten und in Gott gekräftigten Seelen bereitet Wonne und Süßigkeit, was dem verweslichen Leibe Schmerz und Qual bereitet.... Wird aber die Wunde nur der Seele geschlagen, .... so kann die Wonne weit in­niger und erhabener sein; denn das Fleisch hält den Geist im Zaum,


  1. Johannes schrieb dies etwa 2 Jahre nach dem Tode der heiligen Mutter. Daß an ihrem Herzen die Liebesverwundung sichtbare Spuren zurückgelassen hatte, wußte er noch nicht.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/176&oldid=- (Version vom 7.1.2019)