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gesagt: die Weisheit, die Schönheit und Stärke Gottes sind in Schatten gehüllt, weil die Seele sie hier noch nicht vollkommen erfassen kann. Da aber dieser Schatten Gott, Seinem Wesen und Seinen Eigenschaften ganz entspricht, so erkennt die Seele im Schatten deutlich die Erhabenheit Gottes. Gottes Allmacht und Weisheit, Sei­ne unendliche Güte und Seine Seligkeit ziehen „im hellglänzenden und feurigen Schatten jener lichthellen und brennenden Lampen vorüber“ und werden so von ihr erkannt und verkostet. So erkennt und verkostet sie alle Reichtümer, die in der unendlichen Einheit und Einfachkeit des göttlichen Wesens vereint sind. Die Erkenntnis des einen beeinträchtigt die Erkenntnis und den Genuß des andern nicht; vielmehr ist jede Schönheit und Kraft ein Licht, das wieder eine andere Herrlichkeit enthüllt. Die Reinheit der göttlichen Weis­heit macht es, daß man in Ihr viele Dinge als eines schaut[1].

All diese Herrlichkeit füllt „des Sinnes abgrundtiefe Höhlen“. Damit sind die Kräfte der Seele gemeint, Gedächtnis, Verstand und Willen. „Sie sind umso tiefer, je größere Gnadengüter sie aufnehmen können“. Nur das Unendliche kann sie ausfüllen. So große Pein sie erduldet haben, als sie leer waren, so große Wonne kosten sie nun, da sie von Gott erfüllt sind. Sie haben die ungeheure Leere ihrer Fassungskraft nicht empfunden, solange sie nicht von aller Anhäng­lichkeit an die Geschöpfe leer, gereinigt und geläutert waren. Die geringste Kleinigkeit, woran sie geheftet sind, macht sie unemp­findlich, sodaß sie „ihren Schatten nicht fühlen, den Verlust der Gnadengüter nicht merken und ihre Aufnahmefähigkeit nicht er­kennen.... Trotz ihrer Fassungskraft für unermeßliche Güter ver­mag die geringste Ursache sie so zu bestricken, daß sie jene nicht in sich aufnehmen können.... Sind sie aber leer und geläutert, dann ist der Durst und Hunger und die Sehnsucht des geistigen Sinnes unerträglich. Denn jede dieser Höhlen hat einen sehr tiefen Magen, und so empfinden sie auch tiefes Weh, denn auch die Speise, die ihnen mangelt, ist unergründlich: es ist ja .... Gott selbst. Dieses tiefe Empfinden (des Hungers und Durstes) stellt sich gewöhnlich gegen Ende der Erleuchtung und Reinigung der Seele ein....“ Wenn das geistige Verlangen rein ist von allem Geschöpflichen und aller Anhänglichkeit daran, dann hat die Seele statt ihrer natürli­chen Weise die göttliche angenommen und besitzt einen leeren, zu­bereiteten Raum. Da sich aber das Göttliche noch nicht in der Ver­einigung mitteilt, empfindet sie „eine Pein, die größer ist als der Tod, besonders wenn durch irgend eine Öffnung oder Ritze ein


  1. a. a. O. Str. 3 V. 3, Obras IV 54 ff. u. 160 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/184&oldid=- (Version vom 7.1.2019)