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göttlicher Strahl hindurchleuchtet, ohne daß Gott sich ihr mitteilt. Das sind jene Seelen, die an Ungestüm der Liebe leiden und nicht lange in diesem Zustand verharren können; entweder müssen sie das Ersehnte erlangen oder sterben“[1].

Die erste Höhle ist der Verstand, ihre Leere ist der Durst nach Gott und verlangt nach der göttlichen Weisheit. Die zweite Höhle ist der Wille, der nach Gott hungert und nach Vervollkommnung der Liebe verlangt. Die dritte Höhle ist das Gedächtnis. Es verzehrt sich nach dem Besitz Gottes. Was diese Höhlen fassen können, ist Gott. Und weil Gott tief und unendlich ist, so ist in gewisser Hin­sicht auch ihre Aufnahmefähigkeit unendlich, ihr Durst und ihr Hunger unendlich, ihr Vernichtetwerden und ihre Pein ein Tod ohne Ende. Wenn auch diese Pein noch nicht so tief ist wie im andern Le­ben, so gibt sie doch ein lebendiges Bild davon, da die Seele schon die nötige Zubereitung besitzt, um die Fülle des ewigen Lebens in sich aufzunehmen. Weil aber diese Bedrängnis in der Liebe ihren Sitz hat, gibt es für sie keine Linderung. „Denn je größer die Liebe ist, desto ungeduldiger ersehnt sie den Besitz Gottes; ihn erhofft sie jeden Augenblick mit sehnlichstem Verlangen“[2].

Doch wenn die Seele in Wahrheit nach Gott verlangt, dann be­sitzt sie den schon, den sie liebt, und so scheint es, daß sie keinen Schmerz mehr empfinden kann. „Denn das Verlangen der Engel, den Sohn Gottes zu sehen, .... (1 Petr. 1, 12), ist frei von Schmerz und ängstlicher Sehnsucht, da sie Ihn ja schon besitzen.... Der Besitz Gottes aber verleiht Wonne und Sättigung. Es muß also die Seele in diesem Verlangen um so mehr Sättigung und Wonne emp­finden, je heftiger es ist, da sie um so mehr im Besitz Gottes lebt; darum empfindet sie auch keinen Schmerz und keine Pein“.

Es ist hier wohl zu beobachten, daß unter Besitz Gottes zweierlei zu verstehen ist: der Besitz durch die Gnade und durch die Ver­einigung. Beide verhalten sich zueinander etwa wie Verlobung[3] und Vermählung. Bei der Verlobung wird eine Übereinkunft getroffen, Braut und Bräutigam besuchen einander manchmal und tauschen Geschenke, aber eine gegenseitige Mitteilung der Personen und Vereinigung findet erst bei der Vermählung statt. So sind bei voll­ständiger Reinigung der Seele Gottes Wille und der ihre in freier Übereinstimmung eins geworden; sie besitzt dann „alles, was man


  1. a. a. O. Erklärung zu Str. 3 V. 3, § 1, Obras IV 58 ff. u. 165 ff.
  2. a. a. O. § 2, Obras IV 59 f. u. 166 f.
  3. Es wurde früher schon darauf hingewiesen, daß Verlobung hier nicht im strengen Sinn der mystischen Verlobung gebraucht ist – im Gegensatz zum Geistlichen Gesang, Str. 13 u. 14, Obras III 63 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/185&oldid=- (Version vom 7.1.2019)