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durch den Willen und die Gnade erreichen kann; das will sagen: Gott hat der Seele in ihr Sein, Sein wahres Sein und die Fülle Seiner Gnade hineingelegt. Das ist der erhabene Stand der geistigen Verlobung der Seele mit dem Wort Gottes; darin erweist ihr der Bräuti­gam große Gnaden und besucht sie oft aufs liebevollste....“ Was ihr dabei an erhabenen Gunstbezeugungen zuteil wird, ist aber mit denen der mystischen Vermählung nicht zu vergleichen; es ist nur die Vorbereitung dafür. Denn es bedarf dazu nicht nur der Reini­gung von aller geschöpflichen Anhänglichkeit, sondern auch der Zubereitung durch Heimsuchungen und Geschenke, damit sie im­mer schöner, reiner und geläuterter und einer so erhabenen Vereini­gung würdiger werde. Darüber vergeht bei dem einen mehr, bei dem andern weniger Zeit. Die Zubereitung geschieht durch die Sal­bungen des Heiligen Geistes. Wenn diese Salbungen „schon sehr er­haben sind...., pflegt der Sehnsuchtsdrang der Seelenhöhlen aufs äußerste gespannt und zart zu werden; .... da sie nämlich schon inniger mit Gott verbinden und deshalb die Seele begehrlicher nach Gott machen und sie mit feinerer Empfindsamkeit zu Ihm hinzie­hen, so wird auch die Sehnsucht zarter und tiefer. Denn die Sehn­sucht nach Gott ist die Zubereitung für die Vereinigung mit Ihm“[1]. Die Salbungen des Heiligen Geistes „sind so erhaben und zart, daß sie das innerste Wesen des Seelengrundes durchdringen .... und die Seele in Süßigkeit zerfließen lassen; dann ist der Schmerz und das sehnsuchtsvolle Dahinschmachten bei der unermeßlichen Leere der Höhlen gleichsam unendlich“. Doch je feiner die Zubereitung war, desto vollkommener wird der Sinn der Seele in der Vermählung den Besitz genießen. „Unter Sinn der Seele versteht man die Fähigkeit und Kraft des Wesens der Seele, die Gegenstände der geistigen Vermögen wahrzunehmen und zu genießen; damit kostet sie die Weisheit, die Liebe und Mitteilung Gottes“. Die Seele nennt ihre Kräfte „tiefe Höhlen des Sinnes“, weil sie in ihnen die Erhabenheit der Weis­heit und der Vollkommenheiten Gottes kostet. Und „wenn sie fühlt, daß sie die tiefen Erkenntnisse und Strahlenfluten der Feuerlam­pen in sich fassen, erkennt sie, daß ihnen eine so große Fassungs­kraft und Tiefe innewohnt, wie sie den verschiedenen Dingen ent­spricht, die sie von Gott empfängt: Erkenntnissen, Süßigkeiten, Freuden, Genüssen usw.“ Ähnlich wie der Gemeinsinn der Phanta­sie Aufbewahrungsort und Archiv für die Bilder und Formen der Sinne ist, „wird auch der Gemeinsinn der Seele als Aufbewahrungs­ort und Archiv der Herrlichkeiten Gottes in dem Maße erleuchtet


  1. a. a. O. Erklärung zu Strophe 3 V. 3, § 3, Obras IV 60 ff. u. 167 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/186&oldid=- (Version vom 7.1.2019)