Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/187

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und bereichert, als er an diesem erhabenen und glanzvollen Besitz Anteil bekommt[1]. Einst war er blind und dunkel – ehe nämlich die Seele von Gott erleuchtet und erhellt war. Das leibliche Auge kann nicht sehen, wenn es im Dunkeln oder wenn es blind ist. So kann auch die Seele bei schärfster Sehkraft nichts erkennen, wenn Gott, ihr Licht, sie nicht erleuchtet. Umgekehrt: ist ihr geistiges Auge erblindet durch die Sünde oder das Verlangen nach etwas Geschöpflichem, dann strömt das göttliche Licht vergeblich auf sie ein. Sie erkennt ihre eigene Dunkelheit, d.h. ihre Unwissenheit, nicht. Von der Finsternis der Sünde ist die Dunkelheit zu unter­scheiden: die unverschuldete Unwissenheit bezüglich natürlicher oder übernatürlicher Dinge. So war auch der Sinn der Seele vor der Vereinigung in doppelter Hinsicht im Dunkel. Denn bis der Herr die Worte sprach: „Es werde Licht!“, schwebten Finsternisse über dem Höhlengrund des Seelensinnes. Je abgrundtiefer der Sinn und seine Höhlen sind, desto tiefer und schwärzer ist auch seine Finsternis bezüglich der übernatürlichen Dinge, wenn ihn Gott, sein Licht, nicht erleuchtet. Er kann unmöglich seine Augen zum Licht erheben und es auch nicht denkend fassen. Denn er weiß nicht, wie es ist, da er es noch nicht gesehen hat, und so kann er auch kein Verlangen danach tragen. Er würde vielmehr nach Finsternis verlangen, da er weiß, wie sie ist“. Wenn aber Gott der Seele das Licht der Gnade verliehen hat, dann wird das Auge ihres Geistes erleuchtet und für das göttliche Licht geöffnet. Und wie vorher ein Abgrund der Finsternis den andern rief (Ps. 18,3), so ruft nun ein Abgrund der Gnade nach dem andern, nämlich nach der Umgestal­tung der Seele in Gott. Dann wird das Licht Gottes mit dem Licht der Seele ganz eins, das natürliche Licht der Seele vereinigt sich mit dem übernatürlichen Licht Gottes und es leuchtet nur noch das übernatürliche.

Der Sinn der Seele war auch blind, weil er sich an etwas anderem als an Gott ergötzte. Das Begehren lag wie der Star oder wie ein Wölkchen vor dem Auge der Vernunft; es war blind für die erha­benen Schönheiten und Reichtümer Gottes. Das kleinste Ding, das dicht vor das Auge gestellt wird, nimmt ihm den Blick auf andere, fernerstehende Dinge. So genügt ein leichtes Begehren, um der See­le das Schauen aller Herrlichkeiten Gottes unmöglich zu machen. In solchem Zustand sieht „das Auge des Urteils“ jenes Wölkchen nur bald so, bald so gefärbt; es hält das Wölkchen für Gott, weil es über dem Sinn liegt; Gott aber fällt nicht in den Bereich des Sinnes.


  1. a. a. O. Erklärung zu Strophe 3 V. 3, § 3, Obras IV 83 f. u. 194 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/187&oldid=- (Version vom 7.1.2019)