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scheinen, sondern auch die Anmut ihres Seins, ihre Kraft, ihre Schönheit und ihre Reize sowie den innersten Grund ihres Beste­hens und Lebens offenbaren. Hier sieht die Seele, wie alle Geschöpfe der höheren und niedern Ordnung ihr Leben, ihre Kraft und ihr Be­stehen in Ihm haben...., daß aber das Wesen Gottes in Seinem Sinn unendlich erhaben ist über all diese Dinge, sodaß sie sie in Seinem Wesen besser erkennt als in ihnen selbst. Und darin besteht das große Entzücken dieses Erwachens, daß sie die Geschöpfe durch Gott erkennt und nicht mehr Gott durch die Geschöpfe.... Wie aber diese Bewegung in der Seele vor sich gehen kann, da Gott un­veränderlich ist, das ist etwas Wunderbares. Denn obwohl Gott sich nicht wirklich bewegt, scheint es doch der Seele, daß Er sich in Wahrheit bewege; da sie nämlich durch Gott verändert und bewegt ist, um jene übernatürliche Erscheinung wahrzunehmen, offenbart sich ihr in ganz neuem Licht jenes göttliche Leben und das Sein und die Harmonie der ganzen Schöpfung in Ihm mit ihren Bewegungen in Gott; und so scheint es ihr, daß Gott sich bewege und die Ursache sich den Namen der Wirkung aneigne, die sie hervorbringt....“ So ist es auch die Seele, die vom Schlaf des natürlichen Schauens zum übernatürlichen erweckt wird. „Nach meiner Ansicht geht dieses Erwachen und Schauen der Seele so vor sich: da die Seele – wie jedes Geschöpf – mit ihrem selbsteigenen Sein in Gott ist, nimmt Gott einige von den vielen Schleiern und Hüllen weg, die vor ihr hängen, damit sie sehen kann, wie Er ist. Dann leuchtet Sein Antlitz voll Huld hindurch und man nimmt es wahr, wenn auch noch etwas im Dunkel, da noch nicht alle Schleier hinweggenommen sind. Und da Er alle Dinge durch Seine Kraft in Bewegung setzt, tritt zugleich mit Ihm alles, was Er tut, zu Tage, sodaß Er in ihnen und sie in Ihm fortwährend in Bewegung zu sein scheinen. Darum hat die Seele den Eindruck, daß Er sich bewege und erwache, wäh­rend doch sie es ist, die bewegt und aufgeweckt wird.... So schrei­ben die Menschen Gott zu, was sich in ihnen findet. Sie, die träge und schläfrig sind, sagen, Gott erhebe sich und erwache, obwohl Er niemals schläft.... Da aber in Wahrheit alles Gute von Gott kommt und der Mensch aus sich nichts Gutes vermag, sagt man der Wahrheit gemäß, daß unser Erwachen ein Erwachen Gottes und unser Aufstehen ein Aufstehen Gottes ist.... Und weil die Seele in einem Schlaf versunken war, aus dem sie aus sich selbst nie hätte erwachen können, und weil nur Gott ihr die Augen öffnen und dies Erwachen bewirken konnte, darum nennt die Seele dieses Erwachen im eigentlichen Sinn ein Erwachen Gottes....

Es ist ganz unaussprechlich, was die Seele bei diesem Erwachen der

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/191&oldid=- (Version vom 7.1.2019)