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die grundlegenden Begriffe und leitenden Bilder gedanklich klarzumachen, reißt ihn so mit sich fort, daß seine ursprüngliche Absicht, das Gedicht Strophe für Strophe und Vers für Vers zu erklären, im Aufstieg bald fallen gelassen wird und in der Nacht erst spät zur Durchführung kommt. In der Lebendigen Liebesflamme dage­gen sind Gedicht und Erklärung eins. Daß zwischen der Abfassung des einen und andern einige Zeit verstrich, hat der Einheit nicht geschadet – im Gegenteil: Johannes hat gezögert, an die Ausle­gung heranzugehen, weil sie ihm als Aufgabe für den natürlichen Verstand unlösbar schien. Er hat sich dazu entschlossen, als die Liebesflamme in ihm aufs neue emporloderte und ihn mit himmli­schem Licht überströmte. Das, was er früher geschrieben hatte, schloß sich nun von selbst tiefer auf. So ergab sich zwanglos der enge Anschluß an die Gedankenfolge der vier Strophen. Die Einheit des Ganzen ist nur an einer Stelle durch eine temperamentvolle Auseinandersetzung mit den stümperhaften Seelenführern unterbrochen[1]. Davon abgesehen ist die Schrift aus einem Guß, von dich­terischem und mystischem Schwung von Anfang bis zu Ende ge­tragen wie keine andere. Aus der Überfülle des Lichtes ergibt sich auch eine besondere Stileigentümlichkeit. Der Heilige hat immer in der Heiligen Schrift gelebt. Überall haben sich ihm Bilder und Ver­gleiche aus der Heiligen Schrift zwanglos aufgedrängt, und er hat gern danach gegriffen, um das, was eigene Erfahrung ihn lehrte, durch das Wort der Schrift zu sichern und zu bekräftigen. Aber hier ist der Zusammenklang der eigenen Erfahrung mit dem offen­barten Gotteswort und den Begebenheiten der Heiligen Geschichte besonders eindringlich[2]. Man fühlt, wie sich für den Heiligen die Schleier heben und alles ihm durchsichtig wird zur Aufhellung des geheimen Verkehrs zwischen Gott und der Seele. Was für den uner­leuchteten Blick des gewöhnlichen Lesers nur äußere Begebenheit ist, das liest er wie selbstverständlich als Ausdruck mystischen Ge­schehens. Nur ein Beispiel: Mardochäus, der dem König Ahasverus das Leben gerettet hatte, ist für Johannes das Bild der Seele, die dem Herrn in Treue dient, ohne etwas dafür zu empfangen. Aber mit einemmal wird sie, „wie einst Mardochäus, für ihre Mühseligkeiten


  1. Lebendige Liebesflamme, Erklärung zu Str. 3 V. 3, § 4, E. Cr. II 444 f. Wir haben diese Einschiebung hier übergangen, um den sachlichen Zusammenhang nicht zu zerreißen. Sie findet in unserem III. Teil Verwendung.
  2. Unsere Wiedergabe des Gehaltes der Liebesflamme gibt davon nur ein sehr schwaches Bild, weil wir aus der Fülle der Schriftbeispiele nur ganz wenige angeführt haben (auch bei den andern Schriften). Wer den richtigen Eindruck be­kommen will, muß die Werke des Heiligen selbst zur Hand nehmen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/195&oldid=- (Version vom 7.1.2019)