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Der Seele Brautgesang

und Klängen stehen. Sie sind ihm eine geheimnisvolle Bilderschrift, in der sich ausspricht – und in der er selbst aussprechen kann –, was sich verborgen in einer Seele vollzieht. Eine geheimnisvolle Bil­derschrift ist es wahrlich. Sie enthält eine solche Fülle des Sinnes, daß es dem Heiligen selbst unmöglich erscheint, die rechten Worte zu finden, um alles zu erklären, was der Heilige Geist in ihm „in unaussprechlichen Seufzern“ sang. Denn dem Heiligen Geist sind diese Strophen zu verdanken. Sie sind „Eingebungen der Liebe und geheimnisvoller Erkenntnis“; der Geist Gottes hat sie der Seele ver­liehen, in der Er Wohnung nahm, und dergleichen vermag auch der Begnadigte selbst nicht vollständig zu beschreiben und verständlich

zu machen. Darum verzichtet der Dichter von vornherein darauf, alles zu erklären. Er will nur „einige allgemeine Erläuterungen ge­ben“ und den Versen „den ganzen Reichtum des Sinnes lassen, da­mit jeder nach seiner Befähigung und dem Zuge seines Geistes dar­aus schöpfe. ...“ Er vertraut darauf, daß die „mystische Weisheit ... kein bestimmtes Verständnis erfordert...., um in der Seele Liebe und Begeisterung zu wecken.... “[1] So wird der Geist, der einer Seele Seine Liebe eingegossen hat, anderen liebenden Seelen einen Zugang erschließen zum geheimnisvollen Ausdruck jener Lie­be. Diesem Wehen des Geistes will der Heilige keine Schranken setzen. Darum erklärt er seine eigenen Erläuterungen als unverbind­lich. Wenn wir die Erläuterungen gelesen haben, sind wir für diese Erklärung aufrichtig dankbar; denn der Gegensatz zwischen dem dichterisch mystischen Schwung des Gesanges und dem ganz anders gearteten Stil der Auslegung ist hier viel tiefer fühlbar als in Auf­stieg und Nacht. Wir haben darin den äußersten Gegenpol zur Liebesflamme, obwohl beide Schriften zeitlich und gedanklich nahe zusammengehören. Es ist hier nicht nur so wie bei den beiden äl­teren Abhandlungen, daß der Denker und Lehrer vor der Dichtung steht wie vor etwas sachlich Gegebenem und fast Fremdem. (Dazu hat jedenfalls der zeitliche Abstand beigetragen: der größte Teil der Strophen entstand 1578 in Toledo, die erste Fassung der Erklärun­gen ist 1584 in Granada geschrieben.) Darüber hinaus hat man den Eindruck, daß neben der leitenden Absicht, die Bildersprache der Dichtung deutend und lehrend zu erschließen, noch eine andere Rücksicht wirksam war. Hinter seinen geistlichen Söhnen und Töch­tern, für die er in erster Linie schreibt, scheint vor dem Blick des Heiligen ein anderes Publikum aufzutauchen, ein weniger gutwilliges und aufnahmebereites. Schon beim Bemühen um das Verständnis


  1. Geistlicher Gesang, Vorwort an Anna von Jesus, die um Erklärung der Strophen gebeten hatte. Obras III 3 ff. u. 183 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/206&oldid=- (Version vom 7.1.2019)