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Der Seele Brautgesang

Die eingefügte Strophe 11 bringt die Sehnsucht der Seele nach der unverhüllten Gottesschau des ewigen Lebens zum Ausdruck und bereitet die Umdeutung der Strophen 36-39 (35-38) vor: diese Strophen beziehen sich in der ersten Fassung unverkennbar auf den Stand der mystischen Vermählung, werden aber in der zweiten Fas­sung durch einige Änderungen und Hinzufügungen in den Erklä­rungen zu einer vorwegnehmenden Schilderung des ewigen Lebens gestempelt.

All das weist auf eine einheitliche Absicht bei der zweiten Bearbei­tung: den mystischen Werdegang der Seele möglichst in einer über­lieferten und unverdächtigen Form darzustellen und die höchste Stufe, die mystische Vermählung, scharf gegen die Vollendung der Seele im ewigen Leben abzugrenzen. Wir werden bald noch zu prü­fen haben, ob auch die Umordnung der Strophen demselben Zweck dient.

Wenn die Überarbeitung der ersten Erklärungen sichtlich in dem Bemühen geschah, alles, was verdächtig sein und mißdeutet werden konnte, ins rechte Licht zu rücken, so scheint doch diese Besorg­nis auch schon bei der ersten Abfassung mitgesprochen zu haben. Der Heilige hat auch am Eingang des Aufstiegs und der Liebes­flamme die übliche Erklärung abgegeben, daß er sich in allem dem Urteil der Kirche unterwerfe, und sich außerdem auf die Lehre der Heiligen Schrift berufen. Aber hier geschieht es mit noch größerem Nachdruck. Er versichert am Ende des Prologs[1], daß er nichts aus sich selbst behaupten wolle noch im bloßen Vertrauen auf seine eigene Erfahrung und das, was er durch Einblick in andere Seelen erkannt habe; er wolle vielmehr alles durch Stellen der Heiligen Schrift sicher stellen und erklären, zum mindesten alles, was etwas schwerer verständlich sei. In der Tat erscheinen im Geistlichen Ge­sang die Schriftworte nicht überall so ungezwungen wie in der Lie­besflamme, besonders die zahlreichen Parallelstellen aus dem Hohen­lied. Oft machen sie den Eindruck, als wollten sie den Beweis er­bringen, daß gewisse gewagte Ausdrücke sich auf den Sprachge­brauch der Heiligen Schrift gründen und im selben Sinn wie dort verwendet sind. Schließlich wird durch den äußeren Zweck viel­leicht auch der unleugbare Abstand zwischen der Dichtung und ihrer Auslegung in etwa verständlich, obwohl dazu wohl auch noch andere Umstände beitrugen. Es ist schon darauf hingewiesen wor­den, daß sich diese Dichtung von den andern, die in Schriften er­läutert wurden, durch die Fülle und Mannigfaltigkeit ihrer Bilder


  1. Obras III 5 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/208&oldid=- (Version vom 7.1.2019)