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Der leitende Gedankengang nach der Darstellung des Heiligen

Anfängern im geistlichen Leben, die an den gewöhnlichen Übungen der Frömmigkeit Freude haben, weil sie noch nicht in die Nacht der Beschauung eingetreten sind. Die Seele, die Gott innerlich be­rührt hat, kann in nichts mehr Ruhe finden, was nicht Gott ist: „Für die Wunden der Liebe findet sich nirgends ein Heilmittel als bei dem, der sie geschlagen hat“. Darum eilt die verwundete Seele hinaus und ruft dem Geliebten nach. „Dies Ausgehen bedeutet .... das Ausgehen von allen Dingen .... und das Ausgehen von sich selbst durch Vergessen seiner selbst und Liebe zu Gott“[1]. Die Seele kann jetzt nichts anderes mehr tun als Gott lieben und verzehrt sich in Sehnsucht nach Seiner Anschauung. Und diesem Verlangen kann der Herr auf die Dauer nicht widerstehen. Die Liebe, die Er entzündet hat, bewegt Ihn selbst zu neuen unerhörten Liebesbe­weisen. Er erscheint plötzlich und hebt die Seele in jähem Fluge zu sich empor[2].

Diese Darstellung der geistlichen Verlobung mit ihrem für die Seele so erschreckenden Hinausgerissenwerden aus allen natürlichen Bedingungen ihres Seins entspricht durchaus dem, was wir bei der hl. Mutter in der 6. Wohnung der Seelenburg geschildert fanden. Die schwache Natur fürchtet zu erliegen und bricht in den Ruf aus: „Wende sie hinweg, Geliebter!“ (die so ersehnten Augen). Aber diese Bitte ist nicht ernst gemeint. Die Seele erhofft vielmehr, von den Fesseln dieses Lebens befreit zu werden, um die beseligende Nähe ertragen zu können. Doch so weit ist es noch nicht. Das Vuelvete, paloma („Kehr zurück, Taube!“) ruft zurück ins irdische Da­sein. Sie muß sich vorläufig mit dem begnügen, was ihr hier gegeben werden kann. Und das ist überreich. Es beginnen nun die Spiele der Liebe zwischen dem göttlichen Liebenden und der geliebten Seele. Sie bedarf nun nicht mehr der Geschöpfe, um durch sie einen Weg zum Geliebten zu finden. Er selbst sucht sie wieder und wieder heim und enthüllt ihr mehr und mehr Seine Schönheit. Doch alle Reize der Geschöpfe müssen ihr jetzt dazu dienen, das Lob der göttlichen Schönheit zu singen. In der Vereinigung mit dem himmlischen Bräu­tigam wird sie selbst mit Gaben überhäuft, mit wunderbarer An­mut und Kraft geschmückt, ganz eingetaucht in Liebe und Frieden. Weil sie das Leben Gottes mitlebt, freut sie sich auch an dem Feuer der Liebe, das Er in andern Seelen entzündet. Sie selbst wird nun eingeführt in den „innersten Weinkeller“, das verborgenste Heilig­tum der Liebe, wo Gott selbst sich ihr mitteilt und sie in sich selbst


  1. Erklärung zu Str. 1 V. 5, Obras III 19 f. u. 207.
  2. Erklärung zu Str. 12 (13), Obras III 56 f. u. 259 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/211&oldid=- (Version vom 6.1.2019)