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Der Seele Brautgesang

umwandelt. Ganz erfüllt von der überwältigenden Seligkeit dieses neuen, göttlichen Lebens vergißt sie alle Dinge dieser Welt, alles Verlangen danach versinkt. Und wie der Geliebte sie mit unver­gleichlicher Zärtlichkeit umgibt, so gibt auch sie sich rückhaltlos hin, sie lebt nur noch für Ihn und ist tot für die Welt. In dieser liebenden Vereinigung blühen alle Tugenden auf. Die Seele erkennt beglückt die himmlische Schönheit, mit der sie selbst jetzt ge­schmückt ist. Aber sie weiß, daß all dieser Reichtum allein durch Gottes Gnadenblick hervorgerufen ist, und sie will ihn für nichts anderes benützen, als um den Geber selbst damit zu erfreuen. Alle Störungen sollen dem seligen Leben der Liebe fern bleiben. Der Herr selbst trägt dafür Sorge, daß alles schwindet, was der dauernden Vereinigung im Wege steht. Und so kann Er sie einführen in den ersehnten Garten, wo sie in völlig ungestörter Ruhe bei ihm verwei­len darf. In tiefster Einsamkeit wird Er sie in die verborgenen Ge­heimnisse Seiner Weisheit einführen, sie in den Flammen der Liebe entbrennen lassen, und kein geschaffenes Wesen wird etwas von dem erblicken, was Gott der Seele bereitet, die Er für immer in sich geborgen hat.

So glauben wir – in einer kurzen Überschau – den ursprüngli­chen Aufbau des Gesanges verstehen zu dürfen: als ein Aufsteigen von einer Stufe der Liebesvereinigung zur andern oder als ein immer tieferes Hineingezogenwerden: erst eine flüchtige Begegnung, dann – nach der Sehnsucht und Qual des Suchens – ein Emporgerissenwerden zur innigsten Verbindung, eine Zeit der Vorbereitung auf das dauernde Eingehen in diese Verbindung und schließlich der unstörbare Friede der Vermählung. Von einer Trennung in drei We­ge oder Stände der Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung kann dabei kaum die Rede sein. Das sind vielmehr drei Wirkungen, die im ganzen Gnadenleben und auf dem ganzen mystischen Weg mit­einander verbunden sind[1], wenn auch auf den verschiedenen Stu­fen jeweils die eine oder andere mehr hervortritt. In der Darstel­lung des Geistlichen Gesanges steht die Vereinigung am Anfang und am Ende und beherrscht das Ganze. Von der Reinigung wird am meisten gesprochen beim Übergang von der Verlobung zur Vermäh­lung. Die Erleuchtung hält mit der Vereinigung Schritt.

In der Strophenordnung der ersten Fassung fällt auf, daß der Übergang von der Verlobung zur Vermählung fließend ist und sehr früh einsetzt. In Str. 15 (24) ist schon die ganze Innigkeit der


  1. So entspricht es auch der Absicht des Areopagiten, auf den die Dreiteilung zurückgeht.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/212&oldid=- (Version vom 6.1.2019)