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Der Seele Brautgesang

Wörterbuch des Heiligen der gegebene Führer, wenn man sich auch nicht sklavisch daran zu halten braucht.

Die Grundstimmung des Gesanges ist bezeichnet durch die Span­nung der liebenden Seele zwischen schmerzlicher Sehnsucht und se­ligem Finden. Diese Grundstimmung hat Ausdruck gefunden in dem Bilde, das gleichfalls das Ganze beherrscht, ungeachtet der Fül­le einzelner Bilder, die sich ihm ein- und unterordnen: dem Bild der Braut, die nach dem Geliebten verlangt, die sich aufmacht, ihn zu suchen, und ihn endlich beseligt findet. Das ist für uns nichts Neues. Auch im Nachtgesang verläßt ja die Braut ihr Haus, um zu dem Geliebten zu eilen; auch in der Liebesflamme wendet sie sich an den Bräutigam. Aber dort steht das bräutliche Verhältnis nicht im Mit­telpunkt, es ist vielmehr selbstverständlicher Hintergrund. Hier ist es das, worum sich alles dreht. Dies Bild ist keine Allegorie. Wenn die Seele Gottes Braut genannt wird, so liegt nicht bloß ein Ähn­lichkeitsverhältnis zweier Dinge vor, das es erlaubt, eines durch das andere zu bezeichnen. Es besteht vielmehr zwischen Bild und Sache eine so innige Einheit, daß kaum noch von einer Zweiheit gesprochen werden kann. Das ist das Kennzeichen des Symbolverhältnisses im engeren und eigentlichen Sinn. Das Verhältnis der Seele zu Gott, wie Gott es von Ewigkeit her als Ziel ihrer Erschaffung vorge­sehen hat, kann gar nicht treffender bezeichnet werden als durch die bräutliche Verbindung. Umgekehrt: was Brautschaft ihrem Sin­ne nach besagt, das findet nirgends eine so eigentliche und voll­kommene Erfüllung wie in der Liebesvereinigung Gottes mit der Seele. Wenn man das einmal erfaßt hat, dann tauschen Bild und Sache geradezu ihre Rollen: die Gottesbrautschaft wird als die ur­sprüngliche und eigentliche Brautschaft erkannt, und alle mensch­lichen Brautverhältnisse erscheinen als unvollkommene Abbilder dieses Urbildes – sowie auch Gottes Vaterschaft das Urbild aller Vaterschaft auf Erden ist. Auf Grund des Abbildverhältnisses wird das menschliche Brautverhältnis tauglich zum symbolischen Aus­druck des göttlichen, und gegenüber dieser Aufgabe rückt das, was es als rein menschliche Beziehung im wirklichen Leben ist, an zweite Stelle. Was es wirklich ist, das hat seinen höchsten Seinssinn darin, daß es einem göttlichen Geheimnis Ausdruck geben kann[1].



  1. Vgl. Eph. 5, 23 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/214&oldid=- (Version vom 6.1.2019)