In welchem Verhältnis steht dieses beherrschende Bild, das Brautsymbol, zu der bunten Mannigfaltigkeit allegorischer Darstellungen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir auf eine andere eingehen, die auch schon früher gestellt wurde: Sind diese Bilder als willkürliche Erdichtungen anzusehen oder als Eingebungen des Heiligen Geistes? Diese Frage ist dem Heiligen selbst durch Schw. Magdalena vom Heiligen Geist gestellt worden. Sie schreibt in ihrem Zeugenbericht, Johannes habe sein Heft mit den Gedichten aus dem Kerker im Kloster zu Beas gelassen, und sie sei beauftragt worden, einige Abschriften zu machen. Sie war voll Bewunderung für die Lebhaftigkeit der Sprache, für die Schönheit und feine Treffsicherheit des Ausdruckes. So fragte sie eines Tages den Dichter, ob Gott ihm jene Worte eingegeben habe, die soviel in sich befaßten und ein solcher Schmuck seien. Er antwortete: „Meine Tochter, manchmal gab sie mir Gott, und andermal suchte ich sie“[1]. Eine ähnliche Auskunft können wir aus dem Werk selbst herauslesen. Im Vorwort wird betont, daß die Strophen vom Geist der Liebe eingegeben seien und daß man darum unmöglich die rechten Worte zu ihrer Erklärung finden könne. Dabei ist offenbar zunächst an die Schwierigkeit der nachträglichen Deutung zu denken. Der dichterische Ausdruck scheint mit dem Gehalt zugleich vom Heiligen Geist empfangen. Doch bald darauf wird uns klar gemacht, daß auch schon der unmittelbare Ausdruck nichts wiederzugeben vermag, was der Geist Gottes die Seele innerlich empfinden und verstehen läßt. Darum greift die Auslegung zu Bildern und Gleichnissen, um etwas davon anzudeuten. Es ist darum in der Erfahrung des Mystikers etwas rein Geistiges und Innerliches vom sprachlichen Ausdruck zu unterscheiden. Und diese form- und weiselose Fülle des Geistes wird sich niemals vollständig in Worte einfangen lassen. Das Greifen nach Bildern und Gleichnissen kann als eigenes Suchen nach einem treffenden Ausdruck gedeutet werden. Es kann aber auch ein Ergreifen dessen sein, was der Geist Gottes darbietet. Wenn Johannes auf die oft so seltsam klingenden und der Mißdeutung ausgesetzten Bilder der Heiligen Schrift verweist, so dürfen wir an eine übernatürliche Hilfe auch beim sprachlichen Ausdruck denken. Der Begriff der Inspiration ist zwar nicht so zu fassen, daß nicht nur alles, was die heiligen Schriftsteller sagen, sondern auch alle ihre Bilder und Worte auf göttliche Eingebung zurückgeführt werden müßten, aber an vielen
- ↑ Obras I 133.
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/215&oldid=- (Version vom 6.1.2019)