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Das Brautsymbol und die einzelnen Bilder

werde[1], so können wir mit der Anschauung nicht mehr folgen und auch keinen Zusammenhang mit dem leitenden Symbol mehr entdecken. Wir stehen vor einer rein verstandesmäßigen, künst­lichen Deutung, die wir auf die Autorität des Dichters und Aus­legers hin annehmen können – oder auch nicht, da er uns Freiheit gegeben hat.

Das lange Ersehnte und Erflehte geschieht. Plötzlich und uner­wartet begegnet die Suchende dem Blick der göttlichen Augen. Ihr leidenschaftliches Verlangen hat den Geliebten bewogen, sie „erha­ben, zart und innigst und mit mächtiger Liebesgewalt heimzusu­chen“[2]. Er ist aufs neue erschienen gleich dem Hirsch: auf dem Hügel, d.h. auf der hohen Warte der Beschauung; Er läßt sich nur blicken, denn „so erhaben auch die Erscheinungen sein mögen, mit denen Gott die Seele in diesem Leben begnadigt, sie sind doch nur kurze, plötzliche Erscheinungen wie aus weiter Ferne“. Und auch Er ist verwundet. „Denn unter Liebenden ist die Wunde des einen beiden gemeinsam und beide haben ein und dasselbe Gefühl“. Das Wehen ihres Fluges bringt Ihm Erquickung. Er nennt sie Taube, weil sie im hohen und leichten Flug der Beschauung aufsteigt, weil sie einfältigen Herzens ist und brennend von Liebe. Das Wehen ihres Fluges – das ist der Geist der Liebe, den sie in dieser hohen Beschauung und Gotteserkenntnis aushaucht, wie Vater und Sohn den Heiligen Geist hauchen. Unter dem Flug wird die eingegossene Gotteserkenntnis verstanden, unter dem Wehen des Fluges aber die Liebe, die daraus entspringt. Und die Liebe ist es, die den Bräuti­gam herbeilockt und erquickt wie ein frischer Wasserquell. „Wie das Wehen des Windes dem von der Hitze Ermüdeten Erfrischung und Erquickung bringt, so erfrischt und erquickt auch das Wehen der Liebe den, der vom Feuer der Liebe brennt. Denn im Liebenden ist die Liebe eine Flamme, die brennt mit dem Verlangen, mehr zu brennen“. Und weil die Liebe der Braut diese Flamme anfacht, ist sie erquickendes Wehen[3].

Da die Seele nun die Gegenwart des Geliebten genießt, enden ihre Sehnsuchtsrufe; sie beginnt vielmehr die Herrlichkeiten zu preisen, die sie in der Vereinigung mit Ihm erfährt. Denn im Geistesflug vollzieht sich, wie wir sahen, die Verlobung mit dem Sohne Gottes. Hier „begnadigt Gott die Seele mit wunderbaren Erleuchtungen über Seine Gottheit, schmückt sie mit Erhabenheit und Majestät, be­reichert sie mit Gaben und Tugenden, bekleidet sie mit göttlicher


  1. Erklärung zu Str. 12 (11) V. 2, Obras III 252 f. u. 53.
  2. Erklärung zu Str. 13 (12), Obras III 259 f. u. 56 f.
  3. Erklärung zum letzten Vers der 13 (12). Strophe, Obras III 264 u. 61.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/217&oldid=- (Version vom 6.1.2019)