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Der Seele Brautgesang

klare Anschauung Gottes wie in der Glorie, sondern immer noch „ein Strahl der Finsternis“[1].

Weil die Seele solche dunkle und unergründliche Erkenntnis emp­fängt und an der Brust des Geliebten erquickende Ruhe genießt, vergleicht sie Ihn der stillen Nacht; aber einer Nacht, die schon vom Morgenlicht erhellt wird, weil es „eine Ruhe und Stille im göttli­chen Licht ist und in einer neuen Erkenntnis Gottes, worin der Geist .... die süßeste Ruhe kostet“. Er erhebt sich „beruhigt und befriedigt in Gott, von der Finsternis des natürlichen Erkennens zum Morgenlicht der übernatürlichen Erkenntnis Gottes.... Bei diesem Aufleuchten des Morgenlichtes herrscht weder volle Nacht noch voller Tag, es ist vielmehr .... ein Zwielicht....“[2]

In der Ruhe und Schweigsamkeit dieser lichterhellten Nacht „ist es der Seele gestattet, die wunderbare Harmonie und Ordnung der göttlichen Weisheit in den Verschiedenheiten aller ihrer Geschöpfe und Werke zu schauen. Sie alle und jedes einzelne von ihnen stehen in einer gewissen Beziehung zu Gott und jedes einzelne Geschöpf er­hebt in der ihm eigenen Weise seine Stimme, um zu verkünden, wieweit Gott in ihm ist, sodaß es erscheint wie eine Harmonie der erhabensten Musik, die alle Serenaden und Melodien der Welt weit übertrifft“. Aber es ist eine lautlose Musik, denn diese ruhige und stille Erkenntnis teilt sich ohne Wortgeräusch mit, „und man ge­nießt in ihr die Lieblichkeit der Musik und die Ruhe des stillen Schweigens“[3]. Diese lieblich tönende Musik wird nur in der Ein­samkeit und Abgeschiedenheit von allen äußeren Dingen vernom­men. Darum wird auch die Einsamkeit selbst klingend genannt.

Wie die Anschauung Gottes die Speise der Engel und Heiligen ist, so wird die Seele durch die beruhigende Erkenntnis der friedlichen Nacht erquickt wie von einem Abendmahl. Sie genießt es mit dem frohen Gefühl, daß alle Mühen und Leiden des Tages vorüber sind. Der Geliebte selbst „hält mit ihr Nachtmahl“ (Apoc. 3, 20); Er gibt ihr Anteil am Genuß all Seiner Güter und entflammt sie durch Seine Freigebigkeit zu neuer Liebe.

Im Schmuck der Tugenden, die Gottes überströmende Barmher­zigkeit ihr verleiht, erscheint der Braut ihr eigenes Innere gleich ei­nem Garten voll duftender Blumen oder einem blühenden Wein­berg. In ihrem Herzen spürt sie die Gegenwart des Geliebten, als liege Er da wie in Seinem eigenen Ruhebett. Sie möchte sich Ihm mit all dem Blütenreichtum übergeben, um Ihm die höchste Huldigung


  1. Dionysius Areopagita, Mystica Theologica, C. I.
  2. Erklärung zu Str. 15 (14) V. 1, Obras III 279 u. 75.
  3. Str. 15 (14) V. 3, Obras III 281 u. 77.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/220&oldid=- (Version vom 6.1.2019)