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Der Seele Brautgesang

den Bergen geschieht, und das würde den Geist am Schauen des Antlitzes Gottes hindern. Sie möchte also ganz frei von aller Be­lastung durch den Leib in ihrem Innersten die Berührung mit dem göttlichen Wesen erfahren und sich erfreuen an dem wundersamen Schmuck, mit dem Er selbst sie geziert hat: einer Erkenntnis Seiner Gottheit, die hoch über den gewöhnlichen Erkenntniswegen liegt.

Aber auch der Bräutigam selbst verlangt nach der Vermählung. Er will der Braut die außerordentliche Seelenstärke, Reinheit und einzigartige Liebe verleihen, um die mächtige und innige Umar­mung Gottes ertragen zu können. Er stellt die vollkommene Har­monie in ihrer Seele her. Alles flatterhafte Spiel der Phantasie, alles gewaltige Aufbegehren der Leidenschaft, alle zaghafte Scheu findet ein Ende. Alle Berge und Täler werden ausgeglichen: alles Über­maß und alles, was unter dem rechten Maß bleibt. Die Wasser der Trübsal müssen weichen, die Winde der Hoffnung schweigen, das Feuer der Freude darf sie nicht mehr entflammen; alle Schrecknisse werden gebannt, durch die der böse Feind Finsternis in der Seele zu verbreiten und das göttliche Licht zu verdunkeln sucht. So kann die Braut völlig ungestört in den Armen des Geliebten ruhen. Sie hat eine Geistesgröße und Standhaftigkeit erlangt, die durch nichts mehr zu erschüttern sind. Obwohl sie das feinste Empfinden für ei­gene und fremde Fehler hat, bereiten sie ihr keinen Schmerz mehr. Denn in diesem Stande hat die Seele alles verloren, „was die Tugenden an Schwäche an sich tragen. Es bleibt nur, was in ihnen kraft­voll, beständig und vollkommen ist. Wie die Engel alles, was Schmerz verursacht, wohl zu würdigen wissen, aber selbst keinen Schmerz darüber empfinden und die Werke der Barmherzigkeit üben ohne irgend ein Gefühl des Mitleids, so ist es bei der Seele in dieser Um­formung durch die Liebe“[1]. Läßt Gott die Seele manches noch schmerzlich empfinden, so geschieht es, um sie mehr Verdienste sammeln zu lassen; mit der mystischen Vermählung hat das nichts zu tun. Auch ihre Hoffnung ist durch die Vereinigung mit Gott so weit zufriedengestellt, als es in diesem Leben möglich ist, und er­wartet nichts mehr von dieser Welt. „Ihre Freude ist gewöhnlich so groß, daß sie einem Meer gleicht: es nimmt durch austretende Flüsse nicht ab und vergrößert sich nicht durch zuströmende“. Wohl werden ihr zufällige Freuden noch überschwänglich zuteil, aber die „wesenhafte geistige Mitteilung erhält dadurch keinen Zu­wachs mehr. Denn was noch Neues hinzukommen kann, das be­sitzt sie schon alles.... Hierin scheint die Seele in gewissem Sinn


  1. Erklärung zu Str. 20 (29), Obras III 307 u. 138.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/224&oldid=- (Version vom 6.1.2019)