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Der Seele Brautgesang

Ehre – ihre ursprüngliche Vollkommenheit und gnadenhafte Erhöhung – verloren. Sie wird aufs neue erhöht in jeder einzelnen Menschenseele, die durch die Taufgnade zur Gotteskindschaft wiedergeboren wird, und gekrönt in den auserwählten Seelen, die zur bräutlichen Vereinigung mit dem Erlöser gelangen. Das geschieht „unter dem Kreuzesbaum“ – als reife Frucht des Kreuzestodes und im Miterleiden des Kreuzestodes. Wie haben wir es aber zu verstehen, daß der Ort der Erhebung derselbe Ort sei wie der des Falles, der Kreuzesbaum und der Paradiesesbaum ein und derselbe? Die Lösung scheint mir im Geheimnis der Sünde zu liegen. Der Baum im Paradies, dessen Früchte den Menschen verboten waren, war ja der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Eine echte Erfahrungserkenntnis des Bösen und seines radikalen Gegensatzes zum Guten konnten die Menschen nur gewinnen, indem sie es taten. So dürfen wir den Paradiesesbaum als Wahrzeichen für die menschliche Natur in ihrer Zugänglichkeit für die Sünde auffassen und die wirkliche Sünde (die erste wie jede spätere) mit all ihren Folgen als seine Frucht. Furchtbarste Auswirkung der Sünde aber und darum Enthüllung ihrer Furchtbarkeit ist das Leiden und Sterben Christi. So ist die Erlösung Frucht des Paradiesesbaumes in mehrfachem Sinn: weil die Sünde Christus bewog, Leiden und Tod auf sich zu nehmen, weil es die Sünde in all ihren Erscheinungsformen war, die Christus kreuzigte, und weil sie eben damit zum Werkzeug der Erlösung gemacht wurde. Die christusverbundene Seele aber gelangt im Mit-Leiden mit dem Gekreuzigten (d.i. in der Dunklen Nacht der Beschauung) zur „Erkenntnis des Guten und Bösen“ und erfährt sie als erlösende Kraft: es wird ja immer wieder betont, daß die Seele durch die scharfe Pein der Selbsterkenntnis (als Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit) zur Reinigung gelangt.

Es ist nun noch darauf hinzuweisen, daß die mystische Vereinigung auch als Anteil an der Menschwerdung aufzufassen ist. Das ist schon durch die enge Verbundenheit beider Geheimnisse nahegelegt. Es wird überdies angedeutet durch die Wendungen, in denen der Heilige von der mystischen Vermählung spricht. Wenn er von einer „so innigen Verbindung beider Naturen und einer solchen Mitteilung der göttlichen Natur an die menschliche“ spricht, daß die gottvermählte Seele selbst als Gott erscheint[1], so wird man an das Verhältnis der beiden Naturen Christi in der hypostatischen Union erinnert. Die Theologen bezeichnen ja auch gern die Annahme der menschlichen Natur durch das göttliche Wort als Vermählung


  1. Erklärung zu Str. 22 V. 2, Obras III 321
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/228&oldid=- (Version vom 6.1.2019)