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Der Seele Brautgesang

ihr die Erinnerung und das Gefühl der Herrlichkeit bereiten“[1]. Beim Hervortreten aus ihrer tiefen Versunkenheit – das ist keine Unterbrechung der wesenhaften Vereinigung, sondern nur ihrer Auswirkung in den Vermögen – hat sie „alles Wissen verloren“: „sie hat in dieser Vereinigung die erhabenste Weisheit Gottes getrunken, die sie alle Dinge dieser Welt vergessen läßt. Es kommt ihr vor, als wäre alles, was sie bisher wußte, ja alles, was die ganze Welt weiß, im Vergleich mit jenem Wissen reine Unwissenheit.... Außerdem läßt die Vergöttlichung und Erhebung des Geistes zu Gott .... keine Erinnerung an irdische Dinge zu; sie ist nicht nur allen geschöpflichen Dingen, sondern auch sich selbst entfremdet und vernichtet, wie verzehrt und aufgelöst in Liebe.... Der Zustand einer solchen Seele gleicht in gewissem Sinn dem Adams in seiner ersten Unschuld, da er noch nicht wußte, was böse ist. Sie ist so unschuldig, daß sie weder das Böse begreift noch etwas für böse hält. Mag sie auch sehr böse Dinge hören und mit eigenen Augen sehen, so kann sie doch nichts davon verstehen....“ (Das steht nicht im Widerspruch zu dem, was kurz zuvor gesagt wurde: daß die Beschauung Erkenntnis des Guten und Bösen verleihe. Jene Erkenntnis gehört den Anfängen des mystischen Weges an, das Nichtwissen um das Böse der erneuerten Unschuld auf dem Gipfel der Vollkommenheit.) Im übrigen ist das Nichtwissen der Seele auf dieser Stufe „nicht so zu verstehen, als gingen ihr die erworbenen Kenntnisse verloren, vielmehr erlangen sie einen höheren Grad von Vollkommenheit durch das übernatürliche Wissen, das ihr von Gott eingegossen wird. Wenn aber auch die erworbenen Erkenntnisse nicht so in der Seele herrschen, daß sie sie nötig hatte, um etwas zu wissen, so kann sie doch noch manchmal Gebrauch davon machen. Denn in dieser Vereinigung mit der göttlichen Weisheit verbinden sich diese erworbenen Erkenntnisse mit der höheren Weisheit...., wie sich ein schwaches Licht mit einem stärkeren vereint. Das starke Licht ist das vorherrschende und leuchtende, doch das schwächere verschwindet nicht, sondern gewinnt an Vollkommenheit.... Wenn aber die Seele in jener Liebe aufgeht, dann verliert sie vollständig alle besonderen Erkenntnisse und Formen der Dinge .... und weiß nichts mehr davon.... Erstens, weil sie durch jenen Liebestrank so in Gott versenkt ist...., daß sie sich aktuell mit keiner Sache beschäftigen .... kann; zweitens – und das ist der Hauptgrund – macht jene Umgestaltung in Gott die Seele der Einfachheit und Reinheit Gottes, in der keine Form noch einbildliche Gestalt ist, so gleichförmig,


  1. Erklärung zu Str. 26 (17) V. 2, Obras III 345 u. 92.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/230&oldid=- (Version vom 6.1.2019)