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Der Seele Brautgesang

in sich, mit sich und mit derselben Liebe, mit der Er sich selbst liebt. Darum verdient sich die Seele mit jedem Werk, das sie in Gott vollbringt, die Vermehrung der Liebe. Erhoben zu dieser Gnade und Würde, verdient sie sich durch jedes Werk Gott selbst“. In Gottes Gnade wirken, das heißt für die Seele: Gott schauen. Durch die Gnade erleuchtet, vermögen die Augen ihres Geistes zu sehen, was ihrer Blindheit vorher verborgen war: „die Herrlichkeit der Tugenden, die unaussprechliche Wonne, unermeßliche Liebe, Güte und Barmherzigkeit Gottes, unzählbare Wohltaten, die sie von Gott empfangen hat....“ All das konnten sie früher weder sehen noch anbeten. „Denn groß ist der Stumpfsinn und die Blindheit der Seele, die der Gnade beraubt ist“. Sie denkt nicht an die Pflicht, Gottes Gnadenerweise zu erkennen und anzubeten, es kommt ihr gar nicht in den Sinn. „So groß ist das Elend derer, die in der Sünde leben oder, besser gesagt, durch die Sünde tot sind“[1].

Hat aber Gott die Seele von ihren „Sünden und Fehlern befreit, so macht Er ihr darüber nie mehr einen Vorwurf und läßt sich dadurch auch nicht abhalten, ihr größere Gnaden zu gewähren“. Die Seele aber soll ihre früheren Fehltritte nicht vergessen. Dann wird sie nicht anmaßend werden, wird stets dankbar bleiben, und ihr Vertrauen wird wachsen, um noch Größeres zu empfangen. Die Erinnerung an ihren früheren schmachvollen Zustand erhöht noch ihre Seligkeit an der Seite des göttlichen Bräutigams. War sie aus sich selbst dunkelfarbig durch die Sünde, so ist sie jetzt mit Schönheit geschmückt durch Gottes Gnadenblick und dadurch neuer Gnaden würdig. Er gibt ja „Gnade um Gnade“ (Joan. 1,16): „Findet Er eine Seele, die Seines Wohlgefallens würdig ist, so fühlt Er sich gedrängt, ihr Gnadenmaß zu vermehren, weil Er in ihr eine angenehme Wohnung gefunden hat.... Hat Er sie schon vor dieser gnadenvollen Erhebung um Seinetwillen geliebt, so liebt Er sie jetzt sowohl um Seinetwillen als um ihretwillen. Entzückt von der Schönheit der Seele .... erweist ihr der Herr immer neue Liebe und neue Gnaden, und während Er sie ohne Unterlaß ehrt und verherrlicht, gestaltet sich Seine Liebe zu ihr immer inniger und zärtlicher.... Wer kann die Würde beschreiben, zu der Gott eine Seele erhebt, an der Er Sein Wohlgefallen gefunden hat? Man kann das unmöglich aussprechen noch sich einen Begriff davon machen; denn da handelt Gott in jeder Weise als Gott, um zu zeigen, was er ist“[2]. Um des Geliebten willen hat die Seele freiwillig die Einsamkeit


  1. Schluß der Erklärung zu Str. 32, Obras III 384.
  2. Erklärung zu Str. 33, Obras III 386 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/234&oldid=- (Version vom 6.1.2019)