Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/239

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Brautsymbol und Kreuz

Beim Wehen des linden Lufthauchs vernimmt die Seele in ihrem Innern die süße Stimme des Bräutigams und verbindet damit ihre eigene Stimme in seligem Aufjubeln. Wie die Nachtigall im Frühjahr singt, wenn Kälte, Regenschauer und Unbeständigkeit der Winterwitterung vorüber sind, so ertönt das Lied der Liebe in einem neuen Frühling der Seele, wenn sie sich nach „allen Stürmen und Wechselfällen des Lebens, geläutert und gereinigt von den Unvollkommenheiten, Drangsalen und Finsternissen der Sinne und des Geistes .... in Freiheit, Erweiterung und Freude des Geistes versetzt fühlt.... Erquickt, beschützt und durchdrungen vom Gefühl der Freude, stimmt .... sie...., vereint mit Gott, den neuen Freudenjubel an.... Er leiht ihr Seine Stimme, damit sie sich mit Ihm vereine zum gemeinsamen Lobe Gottes“. Denn Gott verlangt sehnsüchtig danach, „ihre Stimme als Ausdruck vollkommenen Freudenjubels zu vernehmen“. Zur Vollkommenheit des Lobliedes gehört es, daß es in der Erkenntnis der Geheimnisse der Menschwerdung wurzelt. Vollkommen ist aber alles, was die Seele im Stand der Vereinigung tut. Darum ist ihr Freudenjubel süß für Gott und süß für sie selbst, wenn er auch noch nicht an das neue Lied in der ewigen Glorie heranreicht[1].

Gott wird sich ihr auch als Schöpfer und Erhalter aller Wesen offenbaren (als Hain mit seinem Gewimmel von Tieren und Pflanzen), und sie wird zur Erkenntnis der Gnade, Weisheit und Schönheit Gottes in einem jeden Geschöpf des Himmels und der Erde wie auch in ihren wechselseitigen Beziehungen und ihrer harmonischen Ordnung gelangen. Das geschieht jetzt in der dunklen Nacht der Beschauung, in geheimnisvollem Empfangen, wovon sie selbst keine Rechenschaft geben kann. Es wird dann geschehen in der „heiteren Nacht“ der klaren Anschauung Gottes[2].

Schließlich wird die Flamme der göttlichen Liebe sie zur Vollkommenheit der Liebe umgestalten, ohne ihr Schmerz zu bereiten. Das ist „nur möglich im Stande der ewigen Beseligung, wo die Flamme nur mehr wonnevolle Liebe ist.... Mag die Stärke der Liebe sich mehr oder minder ändern, die Seele empfindet keinen Schmerz wie früher, als sie noch nicht zur vollkommenen Liebe fähig war“. In diesem Leben aber ist die Umgestaltung niemals frei von Schmerz, selbst auf der höchsten Stufe der Liebe, und die Natur gerät noch immer in Aufregung. „Der Schmerz entsteht aus dem heftigen Verlangen nach der beseligenden Umgestaltung...., die


  1. Erklärung zu Str. 39 V. 2, Obras III 419.
  2. Erklärung zu Str. 39 V. 3 u. 4, Obras III 421.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/239&oldid=- (Version vom 6.1.2019)