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Der Seele Brautgesang

Aufregung der Natur hat ihren Grund darin, daß der schwache und vergängliche Sinn durch die Stärke und Größe einer so erhabenen Liebe in Mitleidenschaft gezogen wird; denn alles, was erhaben ist, drückt die schwache Natur nieder und bereitet ihr Schmerz.... In jenem beseligenden Leben aber wird die Seele keinen Schmerz und keine Einbuße mehr erleiden, wenn auch ihre Erkenntnis unergründlich und ihre Liebe unermeßlich sind; Gott gibt ihr zur Erkenntnis die nötige Fähigkeit und für die Liebe die Kraft und verleiht dem Verstand durch die göttliche Weisheit und dem Willen durch die göttliche Liebe die Vollendung“[1].

Dieser seligen Vollendung harrt die Seele entgegen im tiefen Frieden der Gewißheit, daß sie völlig dafür bereitet ist und von keiner Seite mehr eine Gefahr zu fürchten hat. Der böse Feind ist so vollständig in die Flucht geschlagen, daß er sich nicht mehr zu zeigen wagt. Kein Geschöpf ahnt etwas von dem, was sie in ihrer Verborgenheit in Gott genießt. Sie ist nicht mehr umlagert von Leidenschaften und Begierden, die ihre Ruhe bedrohen. Die sinnlichen Kräfte sind so gereinigt und vergeistigt, daß sie an den Gunstbezeugungen Gottes im Innersten des Geistes Anteil haben können. Allerdings können sie die Gewässer der geistigen Güter nicht kosten, sondern nur erblicken. „Denn der sinnliche Teil .... hat im eigentlichen Sinn keine Befähigung, das Wesen der geistigen Güter zu genießen, weder in diesem noch im anderen Leben. Es wird ihm vielmehr durch ein gewisses Überströmen des Geistes eine fühlbare Erquickung und Ergötzung zuteil, und durch diesen Wonnegenuß werden die körperlichen Sinne und Vermögen in die innere Sammlung mit hineingezogen, wo die Seele die Wasser der geistigen Güter trinkt“. Sie steigen ab, wie Reiter von ihren Pferden, da sie „ihre natürliche Tätigkeit aufgeben.... und sich der geistigen Sammlung überlassen“[2].

In der bunten Folge der Bilder ist der ganze Weg der Seele vor uns enthüllt worden. Damit zugleich durften wir hineinschauen in die geheimen Ratschlüsse Gottes, die vom Schöpfungsmorgen an diesen Weg vorgezeichnet haben. Und wir sehen, wie der verborgene Weg der Seele verwoben ist mit den Glaubensgeheimnissen. Von Ewigkeit her ist sie ausersehen, als Braut des Sohnes Gottes das dreifaltige Leben der Gottheit mitzuleben. Um die Braut heimzuführen, bekleidet sich das Ewige Wort mit der menschlichen Natur. Gott und die Seele sollen zwei in einem Fleisch sein. Weil aber das Fleisch


  1. Erklärung zu Str. 39 V. 5, Obras III 423.
  2. Erklärung zu Str. 40, Obras III 424 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/240&oldid=- (Version vom 6.1.2019)