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Auf Grund dieser Angaben läßt sich der Werdegang des Werkes zeitlich begrenzen und gliedern: der Schaffensprozeß umfaßt insgesamt eine Zeitspanne von kaum 9-10 Monaten; er setzt mit dem ersten Schaffensstadium ca. September-Oktober 1941 ein und wird, nahe der Vollendung, im dritten Schaffensstadium am 2. August 1942 abgebrochen. Zusammengedrängt in diesen ungemein kurzen Zeitabschnitt erscheint die Arbeitsleistung nur erklärlich unter Voraussetzung pausenloser, konzentrierter Arbeit an einem virtuell ausgereiften Geistesprodukt. Das bedeutet für die Gliederung des Schaffensprozesses die Annahme einer unmittelbaren Aufeinanderfolge der Schaffensstadien.

Der Rückschluß, daß es sich bei dem vorliegenden Werk um die Niederschrift eines ausgereiften Geistesproduktes handle, legt die Frage nach seiner inneren Genese nahe. Wir müssen unseren Blick rückwärts richten. Finden sich in der Entwicklung und im Schaffen E. Steins Hinweise auf die Beschäftigung mit dem Leben und der Lehre des hl. Johannes?

Ein erster Hinweis liegt in der religiösen Entwicklung E. Steins. Die Lektüre der Schriften der hl. Teresia veranlaßten sie zum Übertritt in die katholische Kirche, die Ideen der Kreuzeslehre gewannen sie für das karmelitanische Leben[1]. Daß auf dem Hintergrund dieser religiösen Entwicklung ein unablässiges Studium der mystischen Literatur stand, bedarf keiner greifbaren Beweise; das ist selbstverständliche Voraussetzung bei der eigengesetzlichen Denkkraft der Steinschen Persönlichkeit.

Zum zweiten weist die philosophische Entwicklung E. Steins in gleiche Richtung. Nach Anlage und ersten Studien psychologisch-pädagogisch nach der Tiefenpsychologie orientiert, wendet sie sich später der modernen Philosophie zu, mit Spezialisierung in der phänomenologischen Richtung. Hierauf folgt eine Zeitspanne intensiver Arbeit im Rahmen der Soziologie und der Pädagogik, die durch die zunehmende Betonung des religiösen Moments gekennzeichnet ist. Dann tritt eine Wendung des philosophischen Interesses zur Scholastik ein, verbunden mit dem Versuch einer Zusammenschau der scholastischen und der modernen Denkweise. Schließlich treten nach einer Periode des Studiums, der Übersetzung und der Interpretation führender Denker der katholischen Philosophie die zentralen metaphysischen Fragen von religionsphilosophischem Standpunkt aus in den Vordergrund. In organischem Verband mit dieser Entwicklung


  1. Siehe im Vorhergehenden den biographischen Abriß.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/293&oldid=- (Version vom 9.3.2019)