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Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie

bin. Hier habe ich unbezweifelbar, absolut gewisse Tatsachen. Das entscheidend Neue bei Husserl ist, daß er nicht bei der Tatsache eines einzelnen cogito stehenbleibt, sondern die ganze Domäne des Bewußtseins als ein Gebiet unzweifelhafter Gewißheit aufdeckt und der Phänomenologie als ihr Forschungsgebiet zuweist. Und da zu jedem Ich denke, Ich nehme wahr, Ich will usw. ein Gedachtes, Wahrgenommenes, Gewolltes als solches gehört, da das Phänomen des wahrgenommenen Baumes aber so unzweifelbar ist wie die Wahrnehmung selbst, mag auch der wahrgenommene Baum nicht existieren, gehört die ganze gegenständliche Welt, die das Ich in seinen Akten sich gegenüber hat, in das Forschungsgebiet der Phänomenologie mit hinein. Es wird gezeigt, daß das gesamte bewußte Ichleben in Wesensallgemeinheit untersucht werden kann, daß es feste Gesetze gibt, nach denen mit Notwendigkeit Akte an Akte sich reihen, und daß in solchen Aktzusammenhängen für das darin lebende Ich eine gegenständliche Welt sich aufbaut.

Diesen Aufbau der Welt für das Ich, das in seinen Akten lebt und sie reflektierend erforschen kann, nennt Husserl Konstitution. In der Untersuchung dessen, was er das transzendentale Bewußtsein nennt, d.h. jener Sphäre unbezweifelbaren Seins, das die radikale Zweifelsbetrachtung aufgedeckt hat, sieht er die Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie, in ihr selbst die philosophische Grundwissenschaft. Denn da für das reine Ich die gesamte gegenständliche Welt sich in seinen Akten aufbaut, kann nur die Analyse dieser konstituierenden Akte den Aufbau der gegenständlichen Welt letztlich klären, nur sie kann den eigentlichen Sinn von Erkenntnis, Erfahrung, Vernunft usw. herausstellen.

Die Aufdeckung der Bewußtseinssphäre und der Konstitutionsproblematik ist sicher ein großes Verdienst Husserls, das heute noch zu wenig gewürdigt wird. Was in seinem eigenen Freundes- und Schülerkreis Anstoß erregte, war eine – unseres Erachtens nicht notwendige – Folgerung, die er aus der Tatsache der Konstitution zog: wenn bestimmte geregelte Bewußtseinsverläufe notwendig dazu führen, daß dem Subjekt eine gegenständliche Welt zur Gegebenheit kommt, dann bedeutet gegenständliches Sein, z.B. die Existenz der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt, gar nichts anderes als Gegebensein für ein so und so geartetes Bewußtsein, näher: für eine Mehrheit von Subjekten, die miteinander in Wechselverständigung und Erfahrungsaustausch

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Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)