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Martin Heideggers Existentialphilosphie

Seins? Einem jeden gibt die Stimme seines Gewissens davon Kunde. Sie ruft das Dasein aus seiner Verlorenheit in das verfallene Mit-sein zu seinem eigentlichen Sein zurück. Der Rufende soll nach Heideggers Deutung wiederum das Dasein sein. Wenn der Ruf so anmutet, als käme er über mich, nicht von mir, so wird das damit erklärt, daß das eigentliche Selbst dem im Man verlorenen das Fremdeste sei. Welches Zeugnis haben wir aber dafür, daß entgegen dem Anschein der Angerufene selbst zugleich der Rufende sei? Soviel ich sehe, kein anderes als die Grundeinstellung, von der das ganze Werk ausgeht und beherrscht ist: daß der solus ipse das vor allem andern ausgezeichnete Sein sei, das, wovon alle Antworten über das Sein zu erwarten seien, das Letzte, worauf zurückgegangen werden könne und was nichts anderes mehr hinter sich habe. Die unbefangene Untersuchung dieses solus ipse stößt aber immer wieder auf Verweisungen, die dafür zeugen, daß er nicht das Letzte ist: nicht das Letztbegründende und nicht das Letzterleuchtende.

Wir wollen auf die Frage des Gewissensrufes jetzt nicht weiter eingehen, sondern bei der Feststellung verweilen, daß es zwei Arten des Seins gibt: das verfallene und das eigentliche, und nun fragen, worin das eigentliche Sein besteht. Die Weise des Daseins, mit der es dem Gewissensruf entspricht, ist die Entschlossenheit als eine ausgezeichnete Erschlossenheit oder als Sein in der Wahrheit; dabei nimmt der Mensch sein eigentliches Sein auf sich, das ein verstehendes Sein zum Ende, ein Vorlaufen in den Tod ist[1].

Damit sind wir bei dem Wesenszug des Daseins angelangt, auf den Heidegger augenscheinlich das Hauptgewicht gelegt hat. Daß es sich selbst immer vorweg sei, daß es ihm in seinem Sein um sein Seinkönnen gehe (was der Name Sorge ausdrückt), daß unter den drei Ekstasen seiner Zeitlichkeit der Zukunft ein Vorrang zukomme, das alles sind nur vorbereitende Hinweise auf die Grundauffassung: daß menschliches Sein seine äußerste Möglichkeit im Tode habe und daß sein Erschlossensein, d.h. sein Verständnis des eigenen Seins, diese äußerste Möglichkeit von vornherein mitumfasse. Darum wird die Angst als seine Grundbefindlichkeit aufgefaßt. Eine Antwort auf die Frage, um die es uns geht: ob die Analyse des Daseins getreu


  1. a.a.O. S. 305 (im Vorausgehenden S. 82).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/100&oldid=- (Version vom 31.7.2018)