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Martin Heideggers Existentialphilosphie

die für den Sinn des Todes entscheidende Frage und darum zugleich entscheidend für den Sinn des Daseins? Sollte es sich herausstellen, daß aus der Analyse des Daseins keine Antwort auf die Frage zu gewinnen ist, so wäre eben damit gezeigt, daß die Analyse des Daseins nicht imstande ist, den Sinn des Todes aufzuklären, dann könnte sie aber nicht hinlänglichen Aufschluß über den Sinn des Daseins geben.

Tatsächlich geht Heidegger über die Frage, was der Tod sei, sehr schnell hinweg, beschäftigt sich dagegen ausführlich mit der Frage, wie er erfahrbar sei[1]. Er behauptet, daß er nicht als Tod oder Sterben anderer erfahrbar sei, sondern nur als Existential, als zum eigenen Dasein gehörig. (Da auch das Sterben als Enden des Daseins bezeichnet wird, ist zwischen Tod und Sterben anscheinend kein scharfer Unterschied zu machen.) Wir wollen nun eigens diesen Fragen nachgehen:

  1. Gibt es eine Erfahrung des eigenen Todes? (Heidegger sagt: Ja!)
  2. Gibt es eine Erfahrung des Todes anderer? (Heidegger sagt: Nein!)
  3. Wie stehen beide zu einander?

Nach Heideggers Deutung ist Sterben „die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist“[2], und damit ist nicht das Ableben als Übergang vom Leben zum Totsein gemeint, sondern etwas zum Dasein als solchem Gehöriges, es während seiner ganzen Dauer Mitaufbauendes. Stoßen wir da nicht wieder auf eine Zweideutigkeit: Tod und Sterben einmal als Ende, dem das Dasein zusteuert, zugleich aber als dies Zusteuern selbst? Im ersten Sinn ist der Tod ein immer noch Ausstehendes, im zweiten ist das Dasein selbst ein beständiges Sterben. Beide Bedeutungen haben eine Berechtigung, aber wir müssen uns darüber klar sein, welche wir jeweils im Auge haben, wenn wir vom Tod oder vom Sterben sprechen.

Wir nehmen jetzt den Tod im Sinne dessen, was während des Daseins immer noch aussteht. Gibt es davon eine Erfahrung? Ganz gewiß gibt es sie, und zwar als Erfahrung am eigenen Leib; Sterben heißt, den Tod am eigenen Leib erfahren. Im ganz wörtlichen, unübertragbaren


  1. Das entspricht der Ablösung der Frage nach dem Sein durch die Frage nach dem Seinsverständnis. (Vgl. im Folgenden u.a. S. 117.)
  2. a.a.O. S. 247 (im Vorausgehenden S. 79).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/102&oldid=- (Version vom 31.7.2018)