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Was ist Phänomenologie?

stehen. (Die Bedeutung intersubjektiver Verständigung für die Konstitution der Erfahrungswelt ist von Husserl erst in seiner letzten Schrift ausführlicher dargelegt worden.) Diese Deutung der Konstitution wird als sein transzendentaler Idealismus bezeichnet. Sie erschien als eine Rückkehr zum Kantianismus, als Preisgabe jener Wende zum Objekt, in der man Husserls großes Verdienst sah, und jener Ontologie, d.h. der Erforschung des Wesensbaus der gegenständlichen Welt, in der Scheler und die ihm nahestehenden Göttinger Husserlschüler ihre Aufgabe sahen und bereits fruchtbare Arbeit geleistet hatten: so haben sie sich an diesem Punkt von ihm getrennt, obwohl er ihre Forschungsart anerkennt und von seinem Standpunkt aus einzuordnen weiß.

Schelers großes Verdienst liegt auf den Gebieten der Ethik, Religionsphilosophie und philosophischen Soziologie. Hier hat er in rein objektiver Einstellung grundlegende Untersuchungen durchgeführt. Er tat es im Vertrauen auf die Kraft der Wesensintuition; diese selbst einer kritischen Analyse zu unterziehen, lag ihm fern – er hat am schärfsten von allen Phänomenologen gegen die kritische Einstellung als geistige Grundhaltung Stellung genommen. Das hing mit seiner religiösen Auffassung zusammen, die der Gotteswelt gegenüber auch für Philosophen den geraden, kindlich-offenen Blick verlangte. Es hing aber auch damit zusammen, daß er keine so strenge und nüchterne Forschernatur war wie Husserl und dessen Auffassung der Philosophie als strenge Wissenschaft auch theoretisch ablehnte. So ist es wohl begreiflich, daß er nicht nur den transzendentalen Idealismus ablehnte, sondern auch für die gesamte Konstitutionsproblematik kein Verständnis zeigte.


d) Gegensatz von Husserl und Heidegger

Um zu sehen, wo sich Heideggers Weg von dem Husserls scheidet, müssen wir die Darstellung der Husserlschen Phänomenologie noch in einem Punkt ergänzen. Bei der radikalen Zweifelsbetrachtung wird nicht nur die äußere Welt als bezweifelbar ausgeschaltet, auch das, was ich über mich selbst weiß, hält der Prüfung zum größten Teil nicht stand: was andere und was ich selbst von meinen Eigenschaften und Fähigkeiten denke, kann Irrtum sein, woran

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Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/11&oldid=- (Version vom 31.7.2018)