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Martin Heideggers Existentialphilosphie

bestimmte Weise menschlichen Seins mit großer Schärfe zeichnet. Ich weiß für die Seinsweise, die er Dasein nennt und für das menschliche Sein schlechthin ausgibt, keinen besseren Ausdruck als unerlöstes Sein. Unerlöst ist sowohl das, was er als verfallendes, alltägliches Sein, wie das, was er für das eigentliche Sein hält. Das eine ist die Flucht vor dem eigentlichen Sein, das Ausweichen vor der Frage: Sein oder Nicht-sein. Das andere ist die Entscheidung für das Nichtsein und gegen das Sein, die Ablehnung des wahren, eigentlichen Seins. Damit ist ausgesprochen, daß das menschliche Sein als solches verzeichnet ist, trotzdem in seine letzten Tiefen hinabgeleuchtet wurde. Die Darstellung ist nicht nur lückenhaft, unvollständig – weil sie das Sein ohne Berücksichtigung des Wesens fassen will und weil sie sich an eine besondere Seinsweise hält –, sie ist eine Verfälschung auch dessen, woran sie sich hält, weil sie es aus dem Zusammenhang des Seins reißt, in den es gehört, und darum seinen wahren Sinn nicht erschließen kann. Das alltägliche Sein ist zweideutig dargestellt, weil es das Mißverständnis mindestens nahelegt, als sei Gemeinschaftsleben als solches verfallen, und eigentliches Sein gleichbedeutend mit einsamem Sein, während doch sowohl einsames als Gemeinschaftsleben ihre eigentliche und ihre Verfallsform haben. Und die Darstellung des eigentlichen Seins setzt an dessen Stelle seine Leugnung.


III. Ist die Analyse des Daseins ausreichend als Grundlage, um die Frage nach dem Sinn des Seins angemessen zu stellen?

Hedwig Conrad-Martius sagt von Heideggers Vorgehen, es sei, „wie wenn mit ungeheurer Wucht weisheitsvoller Umsicht und nicht nachlassender Zähigkeit eine durch lange Zeiträume ungeöffnete und fast nicht mehr öffenbare Tür aufgesprengt wird und gleich darauf wieder zugeschlagen, verriegelt und so stark verbarrikadiert, daß ein Wiederöffnen unmöglich scheint“[1]. Er habe mit seiner „in unnachahmlicher philosophischer Schärfe und Energie herausgearbeiteten Konzeption des menschlichen Ich den Schlüssel zu einer Seinslehre in Händen, die – alle subjektivierenden, relativierenden


  1. Heideggers Sein und Zeit (Kunstwart, 1933).
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Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/112&oldid=- (Version vom 31.7.2018)