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Martin Heideggers Existentialphilosphie

sondern Sinn in Verstehen auflöst. (Davon wird noch zu sprechen sein.) Daß man vom menschlichen Sein her nicht zum Verständnis anderer Seinsweisen gelangt, wenn man sie nicht selbst unvoreingenommen ins Auge faßt, das zeigt die völlige Dunkelheit, in der bei Heidegger der Sinn des Vorhandenseins und Zuhandenseins bleibt. Es kommt freilich hinzu, daß das menschliche Sein gerade in dem verzeichnet ist, was es mit dem dinglichen Sein teilt: durch die Streichung seiner Wesenhaftigkeit und Substantialität.

Es ist augenscheinlich, daß die ganze Untersuchung bei Heidegger schon von einer bestimmten vorgefaßten Meinung über das Sein getragen ist: nicht nur von jenem vorontologischen Seinsverständnis, das zum menschlichen Sein selbst gehört und ohne das keine Frage nach dem Sein möglich ist. Auch nicht von jener echten Ontologie, wie sie Heidegger selbst verstanden haben will: einer Forschung, die mit unbeengtem und ungetrübtem Blick das Sein ins Auge faßt, um es selbst zum Sprechen zu bringen. Es ist von vornherein alles darauf angelegt, die Zeitlichkeit des Seins zu beweisen. Darum wird überall ein Riegel vorgeschoben, wo sich ein Ausblick zum Ewigen öffnet; darum darf es kein vom Dasein unterschiedenes Wesen geben, das sich im Dasein verwirklicht; darum keinen vom Verstehen unterschiedenen Sinn, der im Verstehen erfaßt wird; darum keine vom menschlichen Erkennen unabhängigen ewigen Wahrheiten – durch all das würde ja die Zeitlichkeit des Seins gesprengt, und das darf nicht sein, mögen auch Dasein, Verstehen und Entdecken noch so sehr zu ihrer eigenen Klärung nach etwas von ihnen selbst Unabhängigem, Zeitlosem verlangen, was durch sie und in ihnen in die Zeitlichkeit eingeht.

Wenn solche sich aufdrängenden Verweisungen abgedrosselt werden sollen, nimmt die Sprache eine eigentümliche, grimmig-verächtliche Färbung an: z.B. wenn die ewigen Wahrheiten als „zu den längst noch nicht radikal ausgetriebenen Resten von christlicher Theologie innerhalb der philosophischen Problematik“ gehörig bezeichnet werden[1]. Es bricht hier ein antichristlicher Affekt durch, der im allgemeinen beherrscht ist, vielleicht ein Kampf gegen das eigene, keineswegs erstorbene christliche Sein. Er zeigt sich auch in


  1. Sein und Zeit, S. 229 f. Die Frage der Christlichen Philosophie braucht hier nicht noch einmal aufgegriffen zu werden, da sie in Endliches und Ewiges Sein, Einleitung, § 4, genügend erörtert ist.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/114&oldid=- (Version vom 31.7.2018)