Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/124

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Martin Heideggers Existentialphilosphie

Damit, daß wir die Frage nach dem Sinn des Seins als die Grundfrage bezeichnet haben, ist dies Problem noch nicht beseitigt. Beide hängen innerlichst zusammen: nach dem Sinn des Seins fragen, heißt voraussetzen, daß wir, die Fragenden, ein Seinsverständnis haben, daß es möglich ist. Dieses Seinsverständnis auf seine innere Möglichkeit, d.h. auf sein Wesen hin untersuchen, heißt voraussetzen, daß uns der Sinn des Seins zugänglich ist. Denn Verstehen heißt nichts anderes als Zugang zu einem Sein haben. Indessen ist es möglich, die Frage nach dem Sinn des Seins zu stellen, ohne zugleich zu fragen, wie das Seinsverständnis sich vollzieht, weil wir im Verstehen des Sinnes dem Sinn und nicht dem Verstehen zugewendet sind. Dagegen ist es nicht möglich, das Seinsverständnis zu untersuchen, ohne den Sinn des Seins mit hereinzuziehen. Denn losgelöst von dem ihm zugänglichen Sinn ist das Verstehen kein Verstehen mehr. Auf alle Fälle liegt also eine Verlagerung des Grundes vor, wenn man die Frage nach dem Seinsverständnis – und nicht die nach dem Sinn des Seins – als Grundfrage in Anspruch nimmt. Immerhin wäre es möglich, daß bei getreuer und ausreichender Untersuchung des Seins Verständnisses zugleich der Sinn des Seins geklärt würde. Ist das bei Heidegger der Fall?

Er sagt, der Mensch müsse Seiendes sein-lassen können und müsse dazu „das Begegnende daraufhin entworfen haben, daß es Seiendes ist“[1]. Ferner: „Dergleichen wie Sein gibt es nur und muß es geben, wo Endlichkeit existent geworden ist“. Schließlich: „Das Sein des Seienden ist… überhaupt nur verstehbar…, wenn das Dasein im Grunde seines Wesens sich in das Nichts hineinhält[2]. Um den letzten Satz verstehen zu können, müssen wir Aufschluß darüber suchen, was mit dem Nichts gemeint ist. An einer früheren Stelle[3] wird das, was die reine Erkenntnis erkennt – der reine Horizont – als ein Nichts bezeichnet. Und es wird davon gesagt: „Nichts bedeutet: nicht ein Seiendes, aber gleichwohl Etwas…“ Was in der reinen Anschauung angeschaut wird (Raum und Zeit), wird ens imaginarium genannt, und dieser Ausdruck wird erläutert, wie folgt: „Das ens imaginarium gehört zu den möglichen Formen des Nichts, d.h. dessen, was nicht ein Seiendes ist im Sinne des Vorhandenen“[4].


  1. a.a.O. S. 218 f.
  2. a.a.O. S. 228.
  3. a.a.O. S. 114 ff.
  4. a.a.O. S. 136.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/124&oldid=- (Version vom 31.7.2018)