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Kant und das Problem der Metaphysik

Nach all diesen Erläuterungen ist unter dem Nichts nicht das absolute Nichts gemeint. Da aber von verschiedenen Formen des Nichts die Rede ist und diese nicht weiter erörtert werden, bleibt es unklar, was für ein Etwas jeweils gemeint ist. Wenn wir aber alle eben angeführten Stellen zusammennehmen und uns außerdem vergegenwärtigen, was über die ursprüngliche Zeit gesagt wurde, so bleibt kaum eine andere Deutung übrig, als daß mit dem Nichts hier die Seinsverfassung des Seienden gemeint ist, die vom, Menschen verstehend entworfen wird, d.h. das Sein selbst[1]. Wenn das wirklich die Meinung ist – und alles weist darauf hin, im Kant-Buch noch unverhüllter als in Sein und Zeit –, so werden damit Seiendes und Sein in einer den Sinn des Seins aufhebenden Weise auseinandergerissen: wenn wir ein Ding als seiend bezeichnen (auch Heidegger läßt ja das dingliche Sein, das er Vorhandensein nennt, als eine Art des Seins gelten), so meinen wir, daß es selbst ist, daß es ein ihm eigenes von unserem Seinsverständnis unabhängiges Sein hat. Heidegger hat mit Recht betont, daß in Was-sein (Wesen, essentia), Daß-sein (Wirklichkeit, existentia) und Wahr-sein Sein überall etwas anderes bedeute und daß es nötig sei, den Grund dieser Spaltung des Seins und den Sinn des Seins als solchen zu klären[2]. (Das ist ja die große Frage der analogia entis.) Jedenfalls meinen wir aber mit dem Sein überall etwas, was dem, was wesenhaft, wirklich oder wahr ist, selbst eigen ist und nicht etwas, worin es durch unser Seinsverständnis gleichsam eingefangen wird. Ja selbst unser eigenes Sein ist etwas, worauf wir stoßen.

Heidegger sucht dem gerechtzuwerden, indem er das menschliche Seinsverständnis ein hin-nehmendes Anschauen nennt. Aber seine ganze Anstrengung ist darauf gerichtet, den Entwurf als solchen zu kennzeichnen. Die Geworfenheit (= Endlichkeit = Angewiesenheit auf anderes Seiendes) wird als Grundverfassung des menschlichen Seins hingestellt, aber sie erfährt nicht die Klärung, deren sie fähig ist und die erst den Sinn des Seins und des Seinsverständnisses erschließen kann. Heidegger hat die Überzeugung ausgesprochen, daß Kant vor dem Ergebnis seiner Kritik der reinen Vernunft zurückgewichen sei. Daran knüpft er die bemerkenswerte Frage: „… Liegt


  1. Zur Bedeutung des Nichts vgl. im Folgenden S. 130 f., zur Frage des Seins die Anmerkung 145 (S. 134).
  2. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 214.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/125&oldid=- (Version vom 31.7.2018)