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Die ontische Struktur der Person...

die tierische Stufe des Seelenlebens. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß gewisse Stellungnahmen, die in diese Grundform einzugehen vermögen, innerhalb des tierischen Seelenlebens prinzipiell unrealisierbar sind.

Dem natürlich-naiven Seelenleben stellen wir eines von wesentlich anderer Struktur gegenüber, das wir (mit einem noch zu klärenden Ausdruck) das befreite nennen wollen. Das Leben der Seele, die nicht von außen getrieben, sondern von oben geleitet wird. Das von oben ist zugleich ein von innen. Denn in das Reich der Höhe erhoben werden, bedeutet für die Seele ganz in sich hineingesetzt werden. Und umgekehrt: sie kann nicht bei sich selbst festen Fuß fassen, ohne über sich selbst – eben in das Reich der Höhe – erhoben zu werden. Indem sie in sich selbst hineingezogen und damit in der Höhe verankert wird, wird sie zugleich umfriedet, den Eindrücken der Welt und dem wehrlosen Preisgegebensein entzogen. Eben das bezeichneten wir als befreit.

Das befreite seelische Subjekt nimmt ebenso wie das natürlich- naive die Welt mit dem Geiste entgegen. Es empfängt auch in seiner Seele Eindrücke von der Welt. Aber die Seele wird nicht durch diese Eindrücke unmittelbar bewegt. Sie nimmt sie von eben jenem Zentrum her entgegen, mit dem sie in der Höhe verankert ist; ihre Stellungnahmen gehen von diesem Zentrum aus und werden ihr von oben vorgeschrieben. Das ist der seelische Habitus der Kinder Gottes. Ihre Freiheit, die Freiheit eines Christenmenschen, ist nicht die Freiheit, von der wir zuvor sprachen. Sie ist Befreitheit von der Welt. Die Art des Stellungnehmens, die ihr entspricht, ist wiederum eine passive Aktivität, freilich von anderer Art als die im Reich der Natur. Das Getriebe des natürlichen Seelenlebens rührt nicht an das Zentrum, das der Ort der Freiheit und die Ursprungsstelle der Aktivität ist. Die geleitete Seele horcht mit eben diesem Zentrum nach oben, empfängt hier die Weisungen von oben und läßt sich von hier aus gehorsam durch sie bewegen. Die Aktivität ist an ihrer Ursprungsstelle unterbunden, von der Freiheit wird am Ort der Freiheit kein Gebrauch gemacht.

Darin liegt mehr als eine Schwierigkeit verborgen. Die Aktivität ist unterbunden – ist nicht das Unterbinden selbst eine Aktion? Von der Freiheit wird kein Gebrauch gemacht – ist nicht der Verzicht auf die Freiheit selbst ein freier Akt? Wenn dem so wäre,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/138&oldid=- (Version vom 31.7.2018)