Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/139

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Abschnitt I

läge nicht darin beschlossen, daß das befreite Seelenleben Freiheit voraussetzt? Man müßte frei sein, um befreit sein zu können. Man müßte sich in der Hand haben, um sich loslassen zu können. Man könnte nicht naiv im Reich der Gnade, d.i. von der Höhe her, leben.

Dies letzte soll zuerst geprüft werden. Gibt es ein ursprüngliches Aufgehobensein im Reich der Gnade, das dem naiv-natürlichen Leben in der Welt entspricht? So müßte das Leben des integren Menschen, des Menschen vor dem Fall, gedacht werden. So auch das Leben der Engel, der Geister, die Gott dienen[1]. Gottes Wille geht zentral durch sie hindurch und wirkt sich unmittelbar in ihren Aktionen aus. Sie sind unterworfen, ohne sich zu unterwerfen. Ihr Gehorsam setzt keinen Verzicht, keinen Gebrauch der Freiheit voraus. Keinen Gebrauch der Freiheit, wohl aber die Freiheit selbst. Zum Gehorsam gehört die Möglichkeit des Ungehorsams, auch wenn faktisch niemals Wahl und Widerstand stattfindet. Gottes Diener können nur freie Geister sein. Blinde Werkzeuge können nach Gesetzen, die ihnen sein Wille vorschreibt, ihren Gang gehen, aber sein Wille kann nicht durch sie lebendig hindurchwirken. So ist das Befreitsein nur für freie Wesen möglich. Es kann aber dennoch naiv sein, d.h. es muß nicht notwendig erst durch einen freien Akt errungen werden.

Das wird aber erforderlich, sobald es sich um ein Wesen handelt, das im Reich der Natur verstrickt, dem naiv-natürlichen Leben ausgeliefert war. Der Übergang aus dem Reich der Natur ins Reich der Gnade muß von dem Subjekt, das aus dem einen ins andere hinübergenommen werden soll, frei vollzogen werden, er kann nicht ohne sein Zutun geschehen oder geleistet werden. Zwischen das Reich der Natur und das der Gnade schiebt sich das Reich der Freiheit[2]. Das Zentrum der Aktivität, das von dem natürlich-naiven Leben nicht erreicht wird, das den Angriffspunkt für die Verankerung in der Höhe bildet, steht an sich und als solches außerhalb beider Reiche. Das freie Subjekt – die Person – ist als solches gänzlich ins Leere ausgesetzt. Es hat sich selbst und kann sich selbst nach allen Richtungen bewegen und ist doch mit eben dieser absoluten Freiheit absolut in sich selbst fixiert und zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Denn das Selbst, das es hat, ist ein völlig leeres und


  1. Was beide unterscheidet, braucht uns hier nicht zu beschäftigen.
  2. Daß dies kein Reich s.str. ist, wird sogleich ersichtlich. (Abkürzung in Latein für „ohne Einschränkung“. Anm. d. Herausgeber)
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/139&oldid=- (Version vom 31.7.2018)