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Die ontische Struktur der Person...

Denn in dem natürlichen Seelenleben herrscht eine verborgene Vernunft, es untersteht Gesetzen, die nur seinem Subjekt verborgen sind, denen es – als naives – blind gehorcht. Sagt sich die Person von dem natürlichen Gang des Seelenlebens los, greift sie bald nach dem, bald nach jenem ohne eine Richtschnur, die ihr jeweils die Entscheidung an die Hand gibt, so sinkt sie unter die tierische Stufe herab, ihr Seelenleben wird ein chaotisches. Sie, die kraft ihrer Freiheit zu sehender Vernunftbetätigung befähigt ist, verfällt durch den Mißbrauch dieser Freiheit der radikalen Vernunftlosigkeit.

Demgegenüber erscheint das Seelenleben der Person, die nach festen Prinzipien zwischen den natürlichen Möglichkeiten wählt, wiederum als ein Kosmos. Und zwar als ein solcher, dessen Gesetze nicht mehr blind befolgt, sondern frei gewählt und sehend erfüllt werden. Es ist dazu nicht erforderlich, daß die Person ihre natürliche seelische Sphäre – materialiter – überschreitet (wessen sie als selbstherrliche gar nicht fähig wäre). Erforderlich ist nur, daß sie von ihrer Freiheit Gebrauch macht, um sich selbst – d.h. die Struktur ihres Seelenlebens und die darin herrschenden Gesetze – zu erkennen.

Erkenntnis im strengen Sinn (oder genauer gesprochen: die Verstandestätigkeit, die zu ihr hinführt) ist echte Aktivität und als solche nur für ein freies Subjekt möglich. Ein naives kann in weitestem Ausmaß Kenntnis nehmen und wissen, aber nicht erkennen. Wie alle freien Akte sind die Verstandesoperationen völlig leer und verdanken ihren Gehalt den Unterlagen, auf die sie prinzipiell angewiesen sind (das sind in diesem Fall letzten Endes Kenntnisnahmen). Die Person ist also vermöge ihrer Freiheit befähigt, ihr eigenes Seelenleben erkenntnismäßig zu durchdringen und die Gesetze, denen es gehorcht, aufzufinden. Es kann ferner zwischen ihnen eine Auswahl treffen und gewisse designieren, denen es fortan ausschließlich gehorchen will. Das ist darum möglich, weil die Vernunftgesetze – im Gegensatz zu Naturgesetzen – nicht necessitieren, sondern motivieren und nur im Rahmen eines Seelenlebens, dessen Subjekt nicht im Besitz der Freiheit ist oder von ihr keinen Gebrauch macht, wie Naturgesetze fungieren.

Das erkenntnismäßig durchleuchtete und geleitete personale Seelenleben scheint über das tierische erhoben – eben dadurch, daß es sich im Licht der Erkenntnis abspielt. Dieses Licht darf aber nicht überschätzt werden. Neben der wahren Erkenntnis steht als mögliches

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)