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Abschnitt I

Ergebnis der freien Verstandesoperationen der Irrtum. Der erkennende Verstand kann fehlgreifen und die Person, die ihm folgt, irreleiten; die Prinzipien, die sie für ihr Seelenleben ergreift, täuschen dann nur den Anschein der Vernunft vor, und dieses Seelenleben selbst wird ein zwar geordnetes und erleuchtetes, aber unvernünftiges, und als solches hinter dem tierischen zurückstehendes.

Der Gefahr, der Vernunftlosigkeit anheimzufallen, bleibt die Person ständig ausgeliefert, die auf ihrer Freiheit stehen und ihr eigener Herr sein will. Ihr Seelenleben ist das spezifisch ungeborgene.

Will sie ihre Seele bergen und erst recht eigentlich gewinnen, so muß sie an ein anderes Reich Anschluß finden, als das der Natur ist. Im Reich der Natur besitzt die Seele sich nicht. Das Tier wird umhergetrieben und hat bei sich keine Stätte. Was um es ist, dem bleibt es ständig ausgeliefert, das ergreift in stetem Wechsel von ihm Besitz und nötigt es, aus sich herauszugehen. Es hat keine Möglichkeit, sich dagegen abzuschließen, seine Seele ist keine Burg, in der es sich verschanzen kann. Die Person, die sich im Reich der Natur aufrichtet, hat die Möglichkeit, sich gegen das, was von außen auf sie eindringt, abzuschließen. Aber so lange sie dagegen kein anderes Bollwerk hat als ihre Freiheit, kann sie es nur, indem sie sich fortschreitend selbst entleert und sich, indem sie sich völlig freimacht, völlig aufzehrt. Erst in einem neuen Reich kann ihre Seele neue Fülle gewinnen und damit erst ihr eigenes Haus werden.

Für die Erfüllung mit neuem Gehalt gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Person kann sich einem der Natur gegenüber transzendenten Geist verschreiben, der ihr neue, von den natürlichen unterschiedene Kräfte verleiht und sie eventuell instand setzt, mittels dieser Kräfte im Reiche der Natur zu herrschen. Zweierlei ist dann zu untersuchen: das neue Verhältnis zum Reich der Natur und das Verhältnis der Person zu dem Geist, dem sie sich verschrieben hat. Durch diese Verbindung hat sie einen Standort außerhalb der Natur gewonnen, der – im Gegensatz zur puren Freiheit – wahrhafter Standort ist. Hier kann sie Fuß fassen, von hier aus kann sie die Eindrücke, die ihr von der Natur kommen, entgegennehmen und ihnen mit Reaktionen antworten, die nun nicht mehr den im Reiche der Natur beschlossenen Möglichkeiten entnommen zu sein brauchen. Von der Natur ist sie damit wahrhaft frei geworden. Daß sie zugleich auch befreit ist in der früher geschilderten Weise und daß

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/143&oldid=- (Version vom 31.7.2018)