Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/149

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Abschnitt I

greifen an dem Gehalt der Eindrücke und Reaktionen an, ganz unabhängig von dem Subjekt, in dessen geistigem Leben sie realisiert werden. Es ist kein besonderer Geist, keine eigentümlich qualifizierte geistige Sphäre erforderlich, damit sie ihre Herrschaft entfalten können. Sofern geistiges Leben sich in der Form der Motivation abspielt, d.h. in der Form der vernunftmäßig geforderten Antwort auf Eindrücke, untersteht das geistige Subjekt ohne weiteres den Vernunftgesetzen, ebenso selbstverständlich wie alles Naturgeschehen den Naturgesetzen gehorcht. Und um dieser selbstverständlichen Einordnung willen können wir hier von einem zweiten Reich der Natur oder prägnanter von einem Reich der natürlichen Vernunft sprechen. Daß zwischen der Natur im eigentlichen Sinn und dieser geistigen Natur ein radikaler Unterschied bestehen bleibt, braucht kaum betont zu werden. Es geht aus Früherem zur Genüge hervor.

Zu freier Geistigkeit erwachend, findet sich das Subjekt im Reiche der natürlichen Vernunft. Dieses Erwachen selbst ist noch nicht als Sache seiner Freiheit anzusehen, und ebensowenig die Zugehörigkeit zu diesem Reiche und die Tendenz, nach seinen Gesetzen sich zu verhalten. Wohl aber gibt es eine Freiheit dieser Tendenz und allen einzelnen konkreten Vernunftgesetzen gegenüber. Das Subjekt kann immer auch anders als es ihnen entspricht. Je mehr es sich dessen bewußt wird und davon Gebrauch macht, desto weniger ist es im Reiche der Vernunft aufgehoben. Ja, ein wahres Aufgehobensein gibt es hier ebenso wenig wie in der Natur im spezifischen Sinne. Gerade das, was zum Eintritt in dieses Reich gehört – die freie Geistigkeit – sondert zugleich aus ihm aus und stellt das Subjekt auf sich selbst. Das Reich der Vernunft ist keine geistige Sphäre, die von einem personalen Zentrum ausströmt und dadurch spezifisch qualifiziert ist. Nur in solchen Sphären kann die Seele wahrhaft aufgehoben sein, und zu ihnen muß mittels der Freiheit durchgebrochen werden. Dieser Durchbruch ist ein freier Akt, in dem die Seele den Geist der Sphäre, die sich ihrer bemächtigen will, bejaht und sich ihm hingibt, so daß er von ihr Besitz ergreifen und sie in seinem Reiche Wohnung nehmen kann.

Es steht also nur noch in Frage, warum die Seele einer geistigen Sphäre wahrhafter angehören kann als der andern. Wir sagten, das Böse müßte in der Seele eine ursprüngliche Stätte haben, um in sie

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/149&oldid=- (Version vom 31.7.2018)