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Abschnitt II

aus und mit der sie sich erhob, losgerissen werden und doch ihre Individualität bewahren. Diese Individualität ist intangibilis. Was in die Seele eingeht und aus ihr herausgeht, das wird von ihr durchtränkt. Auch die Gnade wird von jeder Seele in ihrer Weise aufgenommen. Ihre Individualität wird von dem Geist des Lichts nicht ausgetrieben, sondern vermählt sich ihm und erfährt dadurch wahrhaft eine neue Geburt. Denn die Seele lebt sich in ihrer Eigenart nur ganz und rein aus, sofern sie bei sich bleibt. Bei allem Reagieren lebt sie nicht nur sich selbst aus, sondern ist zugleich den Gesetzen unterworfen, denen diese Reaktionen als solche und unabhängig von dem Subjekt, das sie jeweils realisiert, unterstehen. Nur wenn sie von allem Äußeren abgelöst und in Ruhe ist, lebt sie rein ihr eigenes Leben. In Ruhe und von Außen abgelöst aber – das haben wir immer wieder gesehen – kann sie nur sein, wenn sie ins Reich der Höhe erhoben wird. So erhält sie durch die Gnade sich selbst zum Geschenk.


II

Daß es ein Geschenk ist, das gehört wesentlich dazu. Wer seine Seele bewahren will, der wird sie verlieren. Also die Seele kann nur zu sich selbst kommen, wenn es ihr gerade nicht um sich selbst zu tun ist. Wie ist das zu verstehen? Denkbar ist es wohl, daß ein Mensch der Welt überdrüssig wird und zu sich selbst zu kommen sucht, bevor die Gnade ihn ergriffen hat. Er kann versuchen, sich selbst zu finden, indem er sich von der Welt freimacht, d.h. die natürlichen Reaktionen unterbindet. Das Ergebnis dieser rein negativen Tätigkeit wird nun ein negatives sein. Er entleert sich, indem er sich gegen die Erfüllung von außen absperrt, die Abtötung führt zum Tode. Das Eigentümliche des seelischen Lebens ist, daß es der Seele zuströmen muß. Und gerade je mehr es ihr eigenes, innerstes Leben ist, desto weniger ist sie imstande, es sich zu verschaffen.

Ein anderer Versuch, sich selbst zu bewahren, ist der, seine Eigenart der Welt entgegenzustellen. Nicht sich den Eindrücken und Reaktionen zu entziehen, sondern unterstrichen auf eine Weise zu reagieren. „Mag es böse, mag es unvernünftig sein, – ich verhalte mich so, wie es mir gemäß ist“. In der Tat kann man von jeder

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/153&oldid=- (Version vom 31.7.2018)