Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/156

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Die ontische Struktur der Person...

innerlich berührt ist, der sieht die Heiligkeit nicht, auch wo er ihr begegnet. Sobald aber die Gnade in ihm Licht erstrahlen läßt, auch noch bevor er sich ihr erschlossen hat, werden ihm die Augen aufgetan, und das Heilige wird für ihn sichtbar. Zeitlich kann beides zusammenfallen: er kann angesichts des Heiligen von der Gnade berührt werden. Es kann aber auch sein, daß die Gnade in ihm beginnt, ohne daß er gerade einem Heiligen begegnet.

Wir sprechen noch immer von der vorbereitenden Gnade, die für das freie Ergreifen ihrer und das Eingehen in ihr Reich vorausgesetzt ist. Ihr gegenüber ist ein verschiedenes freies Verhalten möglich. Die Seele kann vor ihr die Augen schließen, weil ja ihr Anblick das Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und die Angst erweckt und steigert, und ihr und sich selbst zu entfliehen suchen. Dann bleibt sie, wie gesagt, an sich festgebunden, und unter allen aktuellen Emotionen wächst die Angst. Sie kann auch der Gnade in die Augen sehen, ihr standhalten und sich doch dagegen verschließen. Das ist die Haltung des Verstockten. Er will die Angst durch Trotz vertreiben und bohrt sich dabei immer tiefer in sie hinein. Und es gibt eine letzte Möglichkeit: sich der Gnade rückhaltlos in die Arme zu werfen. Das ist die entschlossenste Abkehr der Seele von sich selbst, das unbedingteste Sichloslassen. Aber um sich so loslassen zu können, muß sie sich so fest ergreifen, sich vom innersten Zentrum her so ganz umfassen, daß sie sich nicht mehr verlieren kann. Die Selbsthingabe ist die freieste Tat der Freiheit. Wer sich so gänzlich unbekümmert um sich selbst – um seine Freiheit und um seine Individualität – der Gnade überantwortet, der geht ebenso – ganz frei und ganz er selbst – in sie ein. Und davon hebt sich die Unmöglichkeit ab, den Weg zu finden, solange man noch auf sich selbst hinsieht. Die Angst kann den Sünder in die Arme der Gnade treiben. Die Angst, die von hinten treibt. Aber indem er sich ganz dahin wendet, wird er die Angst los, denn die Gnade nimmt Sünde und Angst von ihm.

Wir sprachen von dem möglichen freien Verhalten der Sünde gegenüber. Gibt es aber auch ein Verhalten der Gnade gegenüber, ohne daß sie vorbereitend wirksam ist? Kann die Freiheit der Gnade zuvorkommen? Vorausgesetzt ist dafür ein Wissen um die Gnade und ihre Wirkungen. Und das kann in der Tat jemand besitzen, der noch nicht innerlich von ihr berührt wurde. Und er kann sich

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/156&oldid=- (Version vom 31.7.2018)