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Abschnitt II

sich davon angezogen. Sie bemerkt ebenso das Unheilige und wird davon abgestoßen, und alles andere verblaßt gegenüber diesen Qualitäten. Dem entspricht in ihrem Innern eine Tendenz, sich im Sinne der Gnade, der ihr eigenen Vernunft gemäß und nicht mehr der natürlichen oder etwa der des Bösen zu verhalten. Folgt sie diesem innern Drange, so unterwirft sie sich damit implicite der Herrschaft der Gnade. Es ist möglich, daß sie das nicht tut. Es bedarf dann einer eigenen gegen den Einfluß der Gnade gerichteten Aktivität. Und diese Leistung der Freiheit bedeutet eine größere Anspannung, je mehr sich die vorbereitende Gnade in der Seele ausgebreitet hat. Diese Abwehrtätigkeit stützt sich – wie alle freien Akte – auf ein andersgeartetes Fundament, etwa auf natürliche Impulse, die neben denen der Gnade noch in der Seele wirksam sind.

Je mehr Boden die Gnade dem, was vor ihr die Seele erfüllte, abgewinnt, desto mehr entzieht sie den gegen sie gerichteten Akten. Und für dieses Verdrängen gibt es keine prinzipiellen Grenzen. Wenn alle dem Geist des Lichts entgegenstehenden Impulse aus der Seele verdrängt sind, dann ist eine freie Entscheidung gegen ihn unendlich unwahrscheinlich geworden. Darum rechtfertigt der Glaube an die Schrankenlosigkeit der göttlichen Liebe und Gnade auch die Hoffnung auf eine Universalität der Erlösung, obgleich durch die prinzipiell offenbleibende Möglichkeit des Widerstands gegen die Gnade auch die Möglichkeit einer ewigen Verdammnis bestehen bleibt.

So betrachtet heben sich auch die früher bezeichneten Schranken der göttlichen Allmacht wieder auf. Sie bestehen nur, solange man allein göttliche und menschliche Freiheit einander gegenüberstellt und die Sphäre außer acht läßt, die das Fundament der menschlichen Freiheit bildet. Die menschliche Freiheit kann von der göttlichen nicht gebrochen und nicht ausgeschaltet, wohl aber gleichsam überlistet werden. Das Herabsteigen der Gnade zur menschlichen Seele ist freie Tat der göttlichen Liebe. Und für ihre Ausbreitung gibt es keine Grenzen. Welche Wege sie für ihre Wirksamkeit wählt, warum sie um die eine Seele wirbt und die andere um sich werben läßt, ob und wie und wann sie auch da tätig ist, wo unsere Augen keine Wirkungen bemerken, das alles sind Fragen, die sich der rationalen Durchdringung entziehen. Es gibt für uns nur eine Erkenntnis der prinzipiellen Möglichkeiten und auf Grund der prinzipiellen Möglichkeiten ein Verständnis der Fakten, die uns zugänglich sind.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/159&oldid=- (Version vom 31.7.2018)